Licht und Schatten der Pariser Friedensordnung

Die Pariser Friedensordnung (mit all ihren Licht- und Schattenseiten) hat die dann sich etablierenden diktatorischen, revisionistischen Machtsysteme Hitlers oder Mussolinis nicht alleine hervorgebracht. Der Erste Weltkrieg zerstörte ein gemeinsames, wesentlich auf liberalen Vorstellungen beruhendes politisches Ordnungssystem. Und er trieb eine mehr oder weniger bisher gemeinsame, vom „Respekt für Verstandesleistungen“ geprägte europäische Kultur in den Abgrund, wo keine Perspektiven für objektive Wahrheiten in verfeindeten, gegensätzlichen, radikalisiert-gewaltbereiten Ideologien mehr zugelassen worden sind.[1] Es war ein „institutionelles moralisches Versagen“ der damaligen regierenden Eliten insbesondere am europäischen Kontinent, diesen oft als „Urkatastrophe“ bezeichneten Ersten Weltkrieg aufzuhalten, hebt etwa Tillmann Bendikowski hervor.[2]

Hitler wirkte nicht nur als „Katalysator“ oder „Medium“ historisch gewachsener Entwicklungen, schreibt etwa Peter Longerich in seiner 2015 erschienenen Hitler-Biographie.[3] Diese parallel dazu bereits vorhandenen Potentiale und Dynamiken von Nationalismus, Autoritarismus, Rassismus, Militarismus, Revisionismus und Imperialismus bereiteten den Boden für die Machtergreifung unter anderem Hitlers in Deutschland 1933. Es waren jene zusätzlichen Voraussetzungen für Hitlers Herrschaft wie die Etablierung einer rechtsextremen Massenbewegung als Reaktion auf Kriegsniederlage; die Folgen der Revolution und des Versailler Vertrages; die Weltwirtschaftskrise und das offensichtliche Versagen der Demokratie bei der Bekämpfung dieser Krise. Doch entscheidend war am Fallbeispiel Deutschland für Hitlers Machtergreifung die zunehmende Akzeptanz der konservativen politisch-ökonomischen Eliten, die ihn ursprünglich für ihre Ziele instrumentalisieren wollten, wobei ihr Kalkül nicht aufging und schließlich der Weg in das von Entmenschlichung, Enthemmung und Zerstörung geprägte Chaos beschritten wurde.

 Aus Sicht unter anderem Wolfram Pytas war es kein Zufall, dass dieser ursprünglich „menschenscheue Außenseiter“ Hitler in einem besonderen „politischen Biotop“ zur Politik fand: im durch Kriegsniederlage, Revolution, Räterepublik, Gegenrevolution und Versailler Vertrag aufgewühlten Deutschland.[4]

Aus geopolitischer Sicht ließ die Implosion dreier großer Imperien, Österreich-Ungarn, des Osmanischen Reiches und des zaristischen Russlands, ein Vakuum entstehen, in das ein „Meldegänger des Ersten Weltkrieges“, Adolf Hitler, mit seinem „Projekt des imperialen Größenwahns“ hineinstieß, meint völlig zu Recht Herfried Münkler.[5]

Zu einem wesentlichen Teil spielen dabei auch geoökonomische Interessen eine Rolle, warum diese Zeit zwischen 1918/19 und 1939 sich so entfaltete, dass am Ende ein neuer – noch verheerender Weltkrieg sich zu entladen begann.

Die geoökonomischen Kapazitäten und globalen Verteilungen galten im Rahmen der Pariser Friedensordnung am Ende des Ersten Weltkrieges als das entscheidende Instrument des machtpolitischen Einwirkens auf internationaler Ebene. (Die USA bauten nicht einmal die volle ihnen zustehende Anzahl an Schlachtschiffen. Es genügte schon, dass alle wussten, dass Amerika dazu imstande war.) Die Anteile geostrategischer Macht wurden damals im Zuge der Flottenkonferenz in Washington 1921/22 nach folgendem Schlüssel festgelegt: 10:10:6:3:3. An der Spitze standen gleichwertig Großbritannien und die USA, die einzigen Mächte mit Flottenpräsenz auf allen Weltmeeren. Japan, als eine auf den Pazifik, also nur auf einen Ozean beschränkte Macht, folgte auf Platz drei. Frankreichs und Italiens Einflussspähren wurden de facto auf die Atlantikküste und das Mittelmeer begrenzt. Deutschland und Russland wurden nicht einmal als potenzielle Konferenzteilnehmer in Betracht gezogen. Für den scharfsinnigen sowjet-russischen Revolutionär Leo Trotzki bedeutete das alles eine Wende in den internationalen Beziehungen, die sich wie eine „Kopernikanische Wende im Mittelalter“ darstellte. Versailles schrieb die Kriegsschuld fest und „stempelte den deutschen Kaiser zum Verbrecher“, hält unter anderem der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze fest.[6] Und sowohl das Habsburger als auch das Osmanische Reich waren in der vom US-Präsidenten Woodrow Wilson vorgezeichneten territorialen Ordnung längst „zum Tode verurteilt worden“. Die spektakuläre Eskalation der Gewalt in den 1930er und 1940er Jahren widerspiegelte schließlich den Widerstand der Verlierer des vorhergegangenen „Großen Krieges“ gegenüber dem neuen Status quo. Es war ihre Vorstellung, dass sie es mit einer neuartigen, bedrohlichen Kraft zu tun hatten – mit der befürchteten künftigen Dominanz der amerikanisch-kapitalistischen Demokratie. Eben diese war es unter anderem, die Hitler, Stalin, Mussolini und auch das japanische Kaiserreich zu so radikalen Taten veranlasste.[7]

In Anlehnung an die von Christopher Clark als „Schlafwandler[8] bezeichneten politisch-diplomatisch-militärischen Entscheidungsträger von 1914, den entstehenden fatalen Dynamiken insbesondere am europäischen Kontinent - hin zur totalen Gewaltentladung – viel zu wenig, und dann viel zu spät Beachtung geschenkt zu haben, scheint es im Verlauf der so genannten Zwischenkriegszeit den damaligen Protagonisten des Erhalts und der Förderung einer liberal-demokratischen Weltordnung wohl nicht anders ergangen zu sein, die katastrophale Flutwelle des wohl kommenden neuerlichen Krieges nicht wirklich abwenden zu können. Als sich die anschließende Appeasement-Strategie gegenüber den auf Revisionismus ausgerichteten, und zu allem entschlossenen Mächten als hinfällig erwies, war es schon zu spät.

Vor diesem Hintergrund zeigt sich, wie komplexe, in sich verschachtelte und überlagerte Dynamiken aus historisch gewachsenen und neuen radikalen Strömungen und Ideologien auf die jeweilige sozioökonomisch, politisch-militärische Gemengelage und ihre jeweiligen Eliten und Entscheidungsträger einwirken und möglichst vorausschauend-kompetentes Agieren erschwert, das wiederum in den jeweiligen Mustern des damaligen Zeitgeistes befangen gewesen ist. (Das trifft übrigens auf jede Zeitepoche zu.)

Wolfgang Taus

 


[1] John Keegan, „Das Geheimnis der Gräben“. In: Der Spiegel 3/1999, S. 112.

[2] Tillmann Bendikowski, Sommer 1914 – Zwischen Begeisterung und Angst – Wie Deutsche den Kriegsbeginn erlebten, C. Bertelsmann 2014, S. 407.

[3] Peter Longerich, Hitler – Biographie, Siedler 2015, 1296 Seiten.

[4] Wolfram Pyta, Hitler - Der Künstler als Politiker und Feldherr, Siedler, 848 Seiten.

Buchkritik in Wiener Zeitung v. 25.5.2015: http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/literatur/buecher_aktuell/753616_Zwischen-Genie-und-Wahn.html 

[5] Herfried Münkler, „Zerfall der Imperien“, S. 274ff. In: Annette Grossbongardt/Uwe Klussmann/Joachim Mohr (Hg.), Der Erste Weltkrieg – Die Geschichte einer Katastrophe, DVA 2014, 304 Seiten.

[6] Adam Tooze, Sintflut – Die Neuordnung der Welt 1916-1931, Siedler 2015, 720 Seiten. Buchkritik in Wiener Zeitung v. 7.9.2015: http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/literatur/buecher_aktuell/773062_Sintflut-mit-Folgen.html

[7] Ebenda.

[8] Christopher Clark, Die Schlafwandler - Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. DVA 2013, 895 Seiten. Buchkritik in Wiener Zeitung v. 8.10.2013: http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/literatur/buecher_aktuell/579000_Wie-Schlafwandler-tappten-die-Voelker-in-eine-Tragoedie.html

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