Was bislang undenkbar schien, ist nun Gewissheit geworden: Großbritannien, die einstige Weltmacht, das drittgrößte Mitgliedsland, die zweitgrößte Volkswirtschaft, wendet der Europäischen Union (EU) den Rücken zu.
Der Volksentscheid der Briten mit einem relativ klaren Votum zugunsten des Austritts Großbritanniens aus der EU (fast 52 Prozent für „Brexit“ gegenüber 48,1 Prozent EU-Befürwortern) hat zu einem politischen Erdbeben am europäischen Kontinent geführt, das nicht nur die internationalen Börsen ins Trudeln gebracht hat.[1]
Für einen „englischen Europäer“, wie sich der britische Historiker Timothy Garton Ash bezeichnet, sei dies „die größte Niederlage seines Lebens“.[2]
Premierminister David Cameron, der mit dem Referendum eigentlich als EU-Befürworter die parteiinterne Zerreißprobe bei den Konservativen beenden wollte, ist der große Verlierer. Er kündigte seinen baldigen Rücktritt an.
Die großen Städte wie London, aber vor allem Schottland und Nordirland haben mit klarer Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt. Nun werden vor allem in Schottland Unabhängigkeitstendenzen laut.
Der Widerstand insbesondere der älteren Bevölkerung (vor allem auf dem Land) gegen die EU war offenbar so groß, dass man die von vielen Wirtschaftswissenschaftern vorausgesagten bedeutenden ökonomischen Kosten des Austritts auf sich nehmen würde. Vor allem die starke Zuwanderung von über 300.000 Menschen pro Jahr hat vor allem bei den gesellschaftlich schlechter gestellten Schichten der britischen Bevölkerung nicht zu verkennende und verständliche Ängste ausgelöst. Als eine Art Trotzreaktion haben die Brexit-Befürworter die Vorteile einer unabhängigen und wieder selbstbestimmten politisch-ökonomischen Zukunft für Großbritannien hervorgestrichen, die aus den florierenden Zeitabschnitten des British Empire im 19. Jahrhundert herrühren.
„Special Relationship“ mit den USA nicht ohne Kratzer
Auch US-Präsident Barack Obama meldete sich zu Wort: Es habe in den Tagen nach dem Votum „ein bisschen Hysterie“ geherrscht, als ob sich nun die NATO und die transatlantische Allianz auflösen würden und „jedes Land sich in seine eigene Ecke flüchten“ würde. Das werde aber nicht geschehen, so Obama. Die Entscheidung der Briten bedeute eher, dass im Projekt der vollen europäischen Integration „nur“ der „Pausenknopf gedrückt“ worden sei.
Auch wenn das „special Relationship“ zwischen den USA und Großbritannien nicht direkt von einem „Brexit“ in Mitleidenschaft gezogen zu sein scheint, so könne nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass Großbritannien längerfristig als bisheriges „direktestes Zugangstor in die EU“ für Amerika in Bezug auf Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik (neben der NATO) und des Handels, deutlich an Bedeutung einbüßen wird. Washington wird deshalb seine politisch-diplomatisch-ökonomischen Kanäle in Richtung EU neu ausrichten müssen.[3]
Für Amerika kommt der Brexit zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Denn während die Amerikaner bei ihren europäischen Verbündeten einmal mehr Geschlossenheit etwa gegenüber der Fortführung der westlichen Sanktionen gegen Russland infolge des Ukraine-Zankapfels einfordern, und das geplante Transatlantische Handels- und Investitionsabkommen mit der EU (TTIP) an der Kippe steht, setzt der Brexit mehr oder weniger ungewollt bislang ungeahnte „Fliehkräfte“ im britischen Königreich aber auch am europäischen Kontinent frei. Die Schotten wollen unbedingt in der EU bleiben und sehen nun in einem Unabhängigkeitsreferendum ihr Heil. Auch Nordirland, das bisher von EU-Subventionen profitiert hat, fürchtet um die weitere unsichere Entwicklung: Die Variante eines Wiedervereinigungsreferendums mit Irland steht für einmal im Raum, um unter anderem in der EU bleiben zu können. Allerdings würde dies die Pro-England-Befürworter vor allem bei den nordirischen Protestanten auf den Plan rufen. Die Folge könnte dann ein Ende des nordirischen Friedensprozesses und ein Hineinschlittern in neue blutige Unruhen bedeuten. Die Fliehkräfte bedrohen den Zusammenhalt des britischen Königreichs in seinen Grundfesten. Der „Hadrianswall“ könnte bezüglich eines besonders widerspenstigen Schottlands gegenüber London wieder an Bedeutung gewinnen.
Sicherheit und Verteidigung Im Rahmen einer Veranstaltung an der Wiener Landesverteidigungsakademie ließ es sich der renommierte Editorial Director/Editor des Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (RUSI), Michael Codner, am Rande seines Vortrages am 23. Juni 2016 nicht nehmen, einen Brexit als „katastrophale Entwicklung“ für sein Land und Europa darzustellen.
Auf dem Gebiet der strategischen und militärischen Sicherheit bleibt die enge Kooperation mit den Amerikanern sicherlich eine Grundkonstante – über einen Brexit hinaus. Keine Frage. Die EU war auch schon zuvor von den Aspekten des geheimdienstlichen Austauschs im Rahmen der sogenannten „Five Eyes“ (USA, Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland) nicht direkt einbezogen.
Aus Sicht mancher US-Militärs wie Admiral James Stavridis (ehem. Kommandierender General des US European Command) dürfte der Brexit die Briten zu noch engagierteren Bündnispartnern mit den Amerikanern machen. Allerdings sprechen die begrenzten finanzpolitischen Kapazitäten nicht zuletzt infolge eines zu erwartenden ökonomischen Einbruchs der heimischen Wirtschaft infolge der „Scheidung von der EU“ eine andere Sprache.
Der britische Botschafter in den USA, Peter Westmacott, bringt es schon mal auf den Punkt: „Ich fürchte, wir werden weniger schlagkräftig sein, wenn wir kein EU-Mitglied mehr sind. Wir werden künftig wesentlich weniger Einfluss auf die Entscheidungen in der EU in Bezug auf russische Provokationen, auf Irans nukleare Ambitionen – und insgesamt auf die Europäische Außen- und Sicherheitspolitik haben.“[4]
Was läuft also mit dem Projekt EU schief? - Eine Nabelschau
Die Idee eines geeinten Europa hat im Grunde viele Vorteile zu bieten. Binnenmarkt und Wettbewerb erlauben eine effizientere Wirtschaft zum Wohle der Menschen in diesem Raum. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Justiz kann die Durchsetzungskraft der nationalen Behörden verbessern, kann zu weniger Bürokratie und mehr Freiheit für die Bürger führen. Die Koordination der EU-Außenpolitik erhöht per definitionem das globale Gewicht Europas. Jedoch wurde die politische Legitimation der EU, ihrer Institutionen und Eliten in Brüssel insbesondere im Zuge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise schwer erschüttert. Die Arbeitslosigkeit ist insbesondere in den südlichen Krisenländern der Union besonders hoch.
Die EU als Friedensprojekt nach den Schrecken zweier Weltkriege aufzubauen, hat mit den Jahrzehnten vor allem nach dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 und dem Verschwinden der militärischen Block-Konfrontation an Zugkraft verloren und ist besonders für die jüngeren Generationen zu einer Selbstverständlichkeit in einer global vernetzten Welt in Zeiten von „Google“ und „Facebook“ geworden. Das Abgleiten in eine oberflächliche und kurzlebige „Spaßgesellschaft“ im Westen, ist durch globalen Eruptionen hier, am europäischen Kontinent – durch den Ausbruch des Ukraine-Konflikts seit 2014 – abrupt gestoppt worden. Die russische Annexion der Krim hat die Charta von Paris (November 1990), wo der Kalte Krieg offiziell zugunsten einer friedlichen Neuordnung Europas für beendet erklärt worden war, außer Kraft gesetzt. Die mehr oder weniger verdeckte militärische Unterstützung Moskaus zugunsten der pro-russischen Separatisten in der Ostukraine hat die schon längst in Vergessenheit geratenen Spannungen zwischen Ost und West wieder aufleben lassen. Ein neuartiger „Kalter Krieg“ in Form einer hybriden zivil-militärischen Kriegführung unter der Schwelle der Intensität eines offensichtlichen regulären Krieges ist nicht zuletzt von Russland vom Zaun gebrochen worden.
Dahinter stehen aber auch strategische Fehler insbesondere der EU, sich nicht einzugestehen, dass Moskau einer West-Integration der früheren Kornkammer des russischen Zarenreichs und eines zentralen Bestandteils der späteren Sowjetunion, Ukraine, nicht tatenlos zusehen werde. Ähnliche Bestrebungen des Westens in Bezug auf Georgien als ehemaliger Bestandteil der UdSSR nach ihrem Untergang Ende 1991, haben zuvor schon 2008 eine russische Militärintervention in Georgien ausgelöst, die dazu führte, dass die autonomen Gebiete Abchasien und Südossetien vom georgischen Staatsverband de facto abgetrennt und als unabhängige Staaten durch Russland am 26. August 2008 anerkannt worden waren.
Die zentralistischen Tendenzen einer bürokratischen Überregulierungswut, erkennbar an oftmals allzu „kleinlichen“ Bestimmungen Brüssels für seine EU-Bürger, die eigentlich dem Prinzip der Subsidiarität zuwiderlaufen und besser auf lokaler bzw. regionaler Ebene behandelt werden sollten, haben aus vielen bisherigen EU-Befürwortern Kritiker gemacht. Die durchaus zutreffende Kritik vieler von rechts der politischen Mitte verorteten europäischen Parteien über zunehmenden „Zentralismus Brüssels“ und einem „Regieren am Willen vieler EU-Bürger vorbei“ muss ernst genommen werden, um als Union im Sinne der Gründungsväter der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg als „europäische Gemeinschaft“ erhalten zu bleiben, wenn auch wahrscheinlich in nächster Zeit in einem anderen architektonischen und auch inhaltlichen Erscheinungsbild.
Allerdings dürfe nicht alle „Schuld“ der Brüsseler EU-Bürokratie überantwortet werden. Die Krisenphänomene erfolgen primär aus dem Druck von Globalisierung und technischem Wandel, einer zu lockeren Geldpolitik sowie dem Versagen nationaler Politiken in den EU-Mitgliedsländern – auch in Großbritannien. Die Finanz- und Bankenkrise hatte ihren Ursprung in mangelnder Regulierung und verantwortungslosem Handeln vieler Banken insbesondere auch in Europa. Überbordende Staatsschulden hätten von den nationalen Regierungen im Zaum gehalten werden müssen, wie das ja von den mehr als zynisch in den Wind geschlagenen europäischen Regeln eingefordert wird. Dazu kommen Korruption und Reformunfähigkeit als „Erscheinungsformen in Politik und Wirtschaft“.
Die europäische Einheitswährung „Euro“ – einst vom deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl im Austausch für die deutsche Wiedervereinigung bewusst in Kauf genommen – hat bei allen anfänglichen positiven Entwicklungen dank niedriger Zinsen und hoher Kredite in vielen Ländern leider auch die Spielräume für Missbräuche, Blasenbildungen und Verschuldung deutlich anwachsen lassen. All diese Faktoren erhöhten die Fehlentwicklungen – unter anderem die Verantwortung für eigenes, verantwortungsloses Handeln so mancher politisch-ökonomischer Eliten in den einzelnen nationalen Euromitgliedsländern auf „die EU“ abzuschieben.
Die Krise des Euro mit der „offenen Wunde“ Griechenland, wo de facto bereits das Gespenst einer „Transferunion“ Wirklichkeit geworden ist, anstatt dass die fiskalische Selbstverantwortung der Euro-Länder glaubwürdig umgesetzt wird, könnte die oben genannten „Fliehkräfte“ in Europa noch insbesondere nach den Wirren des Brexit verstärken. Zu diesem „verworrenen Gezerre“ passt auch die Haltung etwa französischer politischer Eliten (nicht nur des Front National), die die deutsche Austeritätspolitik und Stabilitätskultur Angela Merkels immer wieder kritisieren.
Die nicht wirklich gelöste Flüchtlingskrise Mit der eskalierenden Flüchtlingswelle insbesondere über die Balkan-Route in ersehnte Aufnahmeländer wie Österreich, vor allem aber Deutschland und Schweden, und dem offensichtlichen Unvermögen der EU-Gemeinschaft, eine faire Aufteilung der Flüchtlinge insbesondere aus den Krisenregionen des erweiterten Mittleren Ostens zu erreichen, steht Europa vor einer bisher kaum zu unterschätzenden Herausforderung. Denn es besteht hier in dieser Frage ein unverkennbarer Riss in der Gemeinschaft, zwischen dem „Westen“ und „Osten“ der EU-Mitgliedsländer. Die EU ist mit den „ungezügelten“ Flüchtlingsströmen zwischen den Polen einer „Willkommenskultur“ und der „Angst um die Erhaltung der abendländisch-christlich geprägten europäischen Kulturen der Aufklärung“ (mit all seinen dunklen Schatten- wie Lichtseiten in der zumeist blutigen Geschichte des Kontinents) hin- und hergerissen.
Gerade erst hat Brüssel mühsam mit Ankara ein Rückführungsabkommen von Flüchtlingen aus dem EU-Mitgliedsland Griechenland in die Türkei auf die Beine gestellt, um die seit Sommer 2015 enorm anschwellenden Flüchtlingsströme einzudämmen. Durch den EU-Türkei-Deal sei nun möglich, „humanitäre Kontingente“ an Flüchtlingen in den EU-Staaten aufzunehmen, erklärte etwa der deutsche Bundesinnenminister Thomas de Maizière am 5. April im ORF-Interview. Doch scheint eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf alle EU-Staaten (nicht nur auf einige wenige „willige“) insbesondere nach dem „Brexit“ kaum mehr Realität wird.
Vor allem über die sogenannte Balkan-Route führte zuletzt der Weg vieler vor Krieg, Not und Verzweiflung in die Flucht getriebener Menschen aus Krisengebieten wie dem Mittleren Osten und aus Afghanistan, aber auch aus Pakistan und zunehmend auch aus Afrika. So sollen schätzungsweise in Deutschland über 1 Million Flüchtlinge allein im Jahr 2015 eingewandert sein. Die Öffnung der deutschen Grenzen vor allem für syrische Kriegsflüchtlinge zu jener Zeit durch Bundeskanzlerin Angela Merkel - aus humanitärer Verantwortung heraus, wie sie betonte - hat zu einem seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr dagewesenen Ansturm an Flüchtlingen nach und durch Europa geführt. Durch den Massenandrang und die offenen Grenzen waren für die jeweiligen nationalen Behörden keine Identitätskontrollen mehr möglich. Was für die Befürworter „Willkommenskultur“ hieß, war für die anderen (allen voran die Sicherheitsorgane) ein signifikantes „Krisenszenario“.
Wenn solche enorme Flüchtlingswellen wie zuletzt mit ungehinderter Wucht andere Staaten überfluten, dann werden nicht nur deren überkommene normative Regelwerke zur Disposition gestellt, sondern dann könnten diese ebenfalls mitgerissen werden – und auch die Union selbst, wird von verfassungsrechtlicher Seite kritisiert. Daher stoße auch die hochmoralisch motivierte Grenzöffnung und freundlichste Willkommenskultur irgendwann an die letzte Grenze des „Vorbehalts des Möglichen“, wird festgehalten. Eine Rechtsordnung, die „nicht mehr ordnet, sondern der Politik nur noch als wohlfeile Dekoration dient“, verliere ihre innere Legitimation und ihre juristische Autorität, so etwa der deutsche Rechtswissenschafter Otto Depenheuer.[5] Demzufolge braucht der Verfassungsstaat als Freiheitsgarant, der Recht schützt, Grenzen im Interesse des Schutzes von Freiheit.
Geopolitische Schockwellen und der Weg zur Neuausrichtung
Während die USA unter welchem neuen Präsidenten auch immer (ob Donald Trump oder Hillary Clinton) weiter bei den europäischen Partnern eine stärkere Lastenteilung in der transatlantischen Allianz einmahnen werden, befindet sich Europa weiter in „Schockstarre“ – gewissermaßen im „Krisenmodus“.
Die Gefahr einer Verstärkung der „Fliehkräfte“ einer „Entgemeinschaftlichung“ bzw. „regionalen Autonomisierung“ scheinen nicht nur auf den Britischen Inseln, sondern auch am europäischen Kontinent real. Zu nennen sind dabei nicht nur die krisengeschüttelten südlichen EU-Staaten wie in erster Linie Griechenland, Spanien, Portugal und auch Italien, sondern auch in den Gründungsländern der europäischen Gemeinschaft wie Frankreich oder Deutschland sind solche dem „Projekt Europa“ abträgliche Entwicklungen deutlich spürbar. Rechts der Mitte stehende politische Parteien- und Protestsammelbewegungen wie der Front National in Frankreich oder die AfD (Alternative für Deutschland) in Deutschland, fordern angesichts des „europäischen Dammbruchs“ ebenfalls EU-Austrittsreferenden, wenn sich der Zentralismus in Brüssel nicht ändere.
Die stets umstrittene Frage der finalen Entwicklung der EU in Richtung entweder eines „Staatenbundes“ oder eines „Bundesstaates“ stellt sich gerade angesichts des Brexit in ungewohnter Dringlichkeit. Ob damit das von den europäischen, rechts der politischen Mitte befindlichen Parteien bei einem Treffen in Wien Mitte Juni 2016 verkündete Projekt eines „Europas der Vaterländer“ (nach dem Vorbild von Charles de Gaulle) in das Spektrum der beiden beschriebenen Finalvarianten einer europäischen Integration passt, wird sich erst zeigen. Es gehe um eine „Allianz für Sicherheit, Wohlstand und Frieden“ in Europa, hieß es.[6]
Angesichts des krisengeschüttelten europäischen Kontinents (infolge der Euro-Krise, der Ukraine-Krise und zunehmender Ost-West-Spannungen, der Flüchtlings-Krise, der bedrohlichen Fliehkräfte nach dem Brexit einer „ausfransenden Union“) braucht es wieder engagierte „Europäer“ im Sinne der Gründerväter der Gemeinschaft und in der weiteren Entwicklung eines Valery Giscard d’Estaing, Helmut Schmidt und Helmut Kohls, um nur einige wenige zu nennen, um den verunsicherten EU-Bürgern die mehr als berechtigten, vielschichtigen Ängste und Zukunftssorgen zu nehmen. Es geht darum, eine ehrliche Gesamtstrategie der europäischen Integration auf den Weg zu bringen, die eine offene Debatte über den Zweck und die Verfassung der EU beinhalten müsse. Die Brüsseler Taktik eines fortwährenden „Lavierens und Verschleierns“ von notwendigen Reformmaßnahmen im Projekt EU, wie es der britische Premierminister Cameron stets (bei aller innenpolitischen wahltaktischen Überlegungen) vor dem EU-Referendum in Großbritannien von Brüssel und den Mitgliedsstaaten der EU völlig zu Recht kritisiert hat, müsse ein Ende haben. Damit wurde nur noch mehr Akzeptanz bei der europäischen Bevölkerung zunichte gemacht. Eine faire und offene Debatte über die finale Entwicklung der EU hat auch die Chance, die vielen Euroskeptiker und Kritiker der Gemeinschaft wieder einzubinden und möglichst zurückzugewinnen.
Die ursprünglichen Wünsche der Briten vor dem Referendum weisen auf eine durchaus gangbare Lösung des derzeitigen Dilemmas: Das in den Römer Verträgen von 1957 und der Präambel des Maastricht-Vertrages von 1992 stehende Ziel einer „immer engeren Union“ müsse ad acta gelegt werden. Stattdessen ist eine „neue identitätsstiftende Vision“ einmal mehr gefragt.
Am Wahrscheinlichsten scheint sich ein aus ökonomisch-fiskalpolitischen Zwängen dann notwendig gewordener „nördlicher Nukleus“ ökonomisch-finanzkräftiger EU-Kernstaaten (unter Führung Deutschlands, der Benelux-Staaten, möglicherweise auch Frankreichs und anderer Länder wie etwa Österreich) herauszukristallisieren, der vielfache „Integrationskreise“ miteinschließt. Damit soll allen EU-Mitgliedsländern jene Schritte und Geschwindigkeiten ermöglicht werden, die die jeweiligen nationalen Gesellschaften für ihre sozioökonomische Entwicklung benötigen. Mit dem Nebeneinander von Schengenraum, an dem auch die Schweiz und Norwegen teilnehmen, mit dem Dublin-Abkommen, der Euro-Zone, den Übergangsbestimmungen für Neumitglieder und diversen Opt-Outs aus verschiedenen europäischen Vertragswerken hat die EU schon heute einen zukunftsweisenden Pragmatismus an den Tag gelegt, um das Miteinander von Mitgliedern mit unterschiedlichen Interessen koordinieren zu können.[7]
Eine solche EU wäre offener, anschlussfähiger und anpassungsfähiger. Für Großbritannien wäre eine solche EU (auch im Sinne eines Europas der Regionen unter dem Vorrang des Subsidiaritätsprinzips) sicher wieder ein attraktiver Partner.
Nun geht es aus britischer Sicht darum, ähnlich wie zu den USA auch zur EU „a new special relationship“ aufzubauen.[8] Großbritannien wird dann auch ein zentraler Partner der USA und der EU sowohl auf politisch-diplomatisch-ökonomischem und natürlich militärischem Gebiet sein.
Die NATO ist und bleibt dabei der zentrale Transmissionsriemen des Zusammenhalts in der transatlantischen Gemeinschaft unter Führung der USA.
Mögliche Optionen für die neuen Beziehungen Großbritanniens zur EU
Aus Sicht des ehemaligen Londoner Bürgermeisters und der konservativen Gallionsfigur der Brexit-Bewegung, Boris Johnson, würden die Briten nach einem EU-Austritt weiterhin in der EU leben und arbeiten können, während Großbritannien umgekehrt die Zuwanderung mit einem Punktesystem kontrollieren würde. Britische Unternehmen hätten Zugang zum Binnenmarkt, aber London würde nichts in den EU-Haushalt einzahlen und man wäre nicht an das EU-Rechtssystem gebunden. – Also „alle Rechten, keine Pflichten“, was stark nach illusionärem Denken riecht.
Realistischer wären folgende Modelle[9]:
- Norwegen-Modell: Der seit 1994 bestehende Europäische Wirtschaftsraum (EWR) umfasst zurzeit die EU-Staaten und die drei Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta) Norwegen, Liechtenstein und Island. Dabei geht es aus Brüsseler Sicht um das Angebot der Wahl an Staaten, die den Binnenmarkt und nur den Binnenmarkt wollen. Er bietet Norwegen, Liechtenstein und Island den vollen Zugang zum und die Teilnahme am EU-Binnenmarkt, ohne dass sie sich an den übrigen Politikbereichen unter anderem der Agrar- und Außenhandelspolitik der EU beteiligen. Ein Beitritt Großbritanniens zum EWR würde den Zugang zum Binnenmarkt einschließlich der für London wichtigen Finanzdienstleistungen ermöglichen. Jedoch müsste dann Großbritannien wie alle EWR-Staaten das umfassende EU-Binnenmarktrecht in nationales Recht übernehmen, ohne dass es eine Mitbestimmung bei der Formulierung der diesbezüglichen Rechte gibt. Zu den vier Binnenmarkt-Freiheiten zählt auch der freie Personenverkehr. Weiters finanzieren die EWR-Staaten über einen speziellen Mechanismus Projekte in schwächeren EU-Ländern und stützen damit die EU-Kohäsionspolitik ab. Die Efta Surveillance Authority kontrolliert ihre Anwendung des Binnenrechts. Der Efta-Gerichtshof ist diesbezüglich für die Interpretation des EWR-Abkommens zuständig.
- Schweizer Modell: Eine maßgeschneiderte Lösung nach dem Vorbild der Schweiz, um Zugang zum Binnenmarkt der EU zu erhalten, wäre für Großbritannien im Fall des Falles auch mit Nachteilen behaftet wie die zuvor beschriebene EWR-Lösung. Vor allem die osteuropäischen EU-Staaten würden dann wahrscheinlich auf das Recht der Personenfreizügigkeit pochen. Dazu kommt, dass die Schweiz finanziell ebenfalls in der Kohäsionspolitik engagiert ist. Die EU macht dabei gegenüber Bern verstärkt Druck hinsichtlich einer „dynamischen“ Übernahme des relevanten Binnenmarkt-Rechts sowie von Überwachungs- und Streitschlichtungsmechanismen.
- Türkei-Modell: Die Türkei ist seit 1996 mit der EU in einer Zollunion verbunden, die sich aber nur auf Industriegüter bezieht. Großbritannien könnte eine – möglichst auf weitere Sektoren ausgedehnte – Zollunion verhindern, dass sich London wieder im bilateralen Handel mit der EU vor Zollbeschränkungen wiederfindet. All die EU-Handelsabkommen müsste Großbritannien dann wieder neu verhandeln. Die EU-Außenhandelspolitik aber wäre für die Briten dann bindend, ohne aktiv mitentscheiden zu können.
- Kanada-Modell: Möglich wäre auch ein umfassendes Freihandelsabkommen Großbritanniens mit der EU, so wie dies Kanada mit dem Comprehensive Economic und Trade Agreement (CETA) anstrebt. Eine solche Übereinkunft könnte neben den meisten Zöllen auch viele nicht-tarifäre Handelsbeschränkungen aufgrund divergierender Regeln reduzieren und den beiderseitigen Zugang zu Dienstleistungen und zu öffentlichen Aufträgen ermöglichen. Eine vollwertige Teilnahme am EU-Binnenmarkt wäre das allerdings nicht.
- WTO-Modell: Ohne einer speziellen Vereinbarung mit der EU würden die Handelsbeziehungen Großbritanniens mit der EU nach der Loslösung von der Union auf Ebene der Regulierung der Welthandelsorganisation (WTO) abgewickelt werden. Das würde bedeuten, dass wieder Zölle und zunehmend auch nicht-tarifäre Handelsbeschränkungen Einzug halten würden.
Mischformen einer Partnerschaft oder Assoziierung sind durchaus denkbar. Dennoch dürfte die von den Briten angestrebte ungehinderte Beteiligung am EU-Binnenmarkt mit den politisch finalen Zielen der Brexit-Befürworter (nämlich eines völligen national- unabhängigen Handelns) kaum in Einklang zu bringen sein. Realistisch wäre aus dieser verengten Perspektive dann nur das WTO-Modell oder ein Freihandelsabkommen.
Artikel 50 des Vertrages über die EU, der den Austritt regelt, wird bei den Verhandlungen über den Austritt auch höchstwahrscheinlich den „Rahmen“ für das künftige Verhältnis Großbritanniens zur EU ermöglichen. Wie auch immer: Ein enger Partner der EU will das Vereinigte Königreich auch künftig bleiben.
Abgeschlossen am 29.6.2016
Wolfgang Taus
Anmerkungen:
[1] The UK's EU referendum: All you need to know - BBC News - BBC.com: http://www.bbc.com/news/uk-politics-32810887
[2] Timothy Garton Ash, „As an English European, this is the biggest defeat of my political life“. In: THE GUARDIAN-Online v. 24.6.2016: http://www.theguardian.com/politics/commentisfree/2016/jun/24/lifelong-english-european-the-biggest-defeat-of-my-political-life-timothy-garton-ash-brexit
[3] Siehe dazu: Kim Sengupta, „Can Britain’s ‘special relationship’ with the US survive outside the EU?“. In: THE INDEPENDENT-Online v. 28.6.2016: http://www.independent.co.uk/news/uk/politics/can-the-special-relationship-survive-outside-the-eu-7107966.html
[4] Ebenda.
[5] Wolfgang Taus, „Die letzte Grenze - Bücher zur Flüchtlingskrise“. In: NZZ-Online v. 26.5.2016: http://www.nzz.ch/international/politische-literatur/buecher-zur-fluechtlingskrise-der-vorbehalt-des-moeglichen-ld.84701
[6] Strache: "Wir lieben Europa". In: DIE PRESSE-Online v. 17.6.2016: http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/5023044/Strache_Wir-lieben-Europa
[7] NZZ v. 25./26.6.2016, S.1.
[8] Malcolm Chalmers, „Brexit Decision: The UK Needs to Become the EU's New Best Friend“. In: RUSI-Online v. 24.6.2016: https://rusi.org/commentary/brexit-decision-uk-needs-become-europes-new-best-friend
[9] NZZ v. 29.6.2016, S.2.