BREXIT: DIE FLIEHKRÄFTE

Was jetzt nach dem Brexit benötigt wird, ist eine neue Politik mit verstärkter Bürgerinvolvierung auf verschiedenen Ebenen: lokal, kommunal, regional, global. „Souveränität lasse sich nur durch Subsidiarität einlösen, auch und gerade jenseits des nationalstaatlichen Rahmens“, hält der britische Historiker Harold James mit Recht fest.[1] Das betrifft nicht nur das Vereinigte Königreich, sondern auch die EU und ihre Mitgliedsländer. Letztlich wird entgegen aller nationalistischen und protektionistisch-sozialistischen Lösungsansätze (die nachfolgend überblicksweise dargestellt werden) eine liberale Vision eines vereinten Europas gesucht.[2] Europas Stärke liegt in seiner Vielfalt, in der der europäische Integrationsprozess unterschiedliche Integrationsintensitäten und Formen der Assoziierung ermöglicht.

Ein Blick in die EU-Mitgliedsländer, wo relevante EU-skeptische Parteien und Bewegungen vorherrschen, zeigt, dass ein befürchteter Dominoprozess bezüglich einer Kettenreaktion an EU-Austrittsreferenden nicht wirklich in Sicht ist. Zahlreiche politisch-rechtliche und finanzielle Einflussfaktoren stehen trotz des derzeitigen „Schwungs“ bei den EU-Skeptikern infolge des Brexit dagegen.[3]

  • Frankreich: Marine Le Pen, die Chefin des „Front national“, forderte unmittelbar nach Bekanntwerden des britischen Referendums auch für ihr Land ein solches.[4] Der französische Präsident Francois Hollande, der eine „Frexit“-Abstimmung anordnen müsste, lehnte das Ansinnen Le Pens ab. Dennoch besteht auch bei den Franzosen eine verbreitete EU-Skepsis. Die Gründe liegen unter anderem bei der derzeitigen EU-Politik der Personenfreizügigkeit, weshalb der migrationsfeindliche Kurs des Front National auf relativ große Zustimmung trifft. Marie Le Pen erklärte, sie wolle als  mögliche künftige französische Präsidentin zunächst mit der EU über Verbesserungen der EU-Verträge verhandeln und erst bei einem Scheitern eine „Frexit“-Abstimmung durchsetzen.
  • Spanien: Forderungen nach einem EU-Austritt Spaniens wurden bislang in der spanischen Bevölkerung nicht gestellt. Das Patt bei den jüngsten Neuwahlen im Lande schürte aber Ängste, dass die EU-Skeptiker Zulauf erhalten würden.[5] Allerdings gibt es einen andauernden Disput um eine mögliche Abtrennung von Katalonien, das nach dem Willen der Separatisten aber weiter der EU angehören solle. Brüssel allerdings signalisierte den katalonischen Aktivisten, dass sich Katalonien in einem solchen Falle gedulden müsse und erst als möglicher Beitrittskandidat zur EU hinter Kosovo gereiht werden würde.
  • Portugal: Catarina Martins, die Chefin des Linksblocks, der unter anderem im portugiesischen Parlament die sozialistische Minderheitsregierung absichert, forderte offen ein EU-Austrittsreferendum für ihr Land. Würde die EU-Kommission im Sommer 2016 gegen die Defizitsünder Portugal (und auch Spanien) Sanktionen beschließen, dann bedeute dies eine „Kriegserklärung“ Brüssels, gegen die sich Lissabon mit der Abhaltung einer solchen Abstimmung wehren müsse.[6] Später ruderte sie wieder zurück. Der portugiesische Präsident Marcelo Rebelo de Sousa verwehrte sich gegen solche antieuropäische Zielsetzungen entschieden. Martins Aussagen wurden nicht einmal von den EU- und Euro-skeptischen Kommunisten geteilt.
  • Niederlande: Die niederländischen EU-Gegner, die erst in jüngster Zeit eine Abstimmung gegen den Assoziierungsvertrag mit der Ukraine gewannen, sehen sich speziell nach dem Brexit gestärkt. Ein „Nexit“-Referendum aber muss erst vom niederländischen Parlament angesetzt werden. Ein dementsprechender Vorstoß des Rechtspopulisten Geert Wilders wurde aber abgelehnt.[7] Derzeit würden laut Umfragen 64 Prozent der Niederländer für den Verbleib in der EU stimmen. Wahrscheinlich wird der Wahlkampf 2017 von diesem Thema beherrscht werden, wobei Wilders Partei deutlich zulegen könnte, wenn es der niederländischen Regierung nicht gelingt, das Ukraine-Referendum umzusetzen.
  • Belgien: Im niederländisch-sprachigen Flandern vertritt die nationalistische Neu-Flämische Allianz einen gemäßigt EU-skeptischen Kurs. Im französisch-sprachigen Wallonien wiederum beziehen links-populistische Parteien ebenfalls EU-skeptische Positionen. Doch insgesamt streben beide gegensätzliche politische Gruppierungen sowohl in Flandern als auch in Wallonien keinen EU-Austritt an. Im Gastland der EU-Zentralen und –Schaltstellen wäre der schwelende Sprachenstreit der beiden Ethnien ohne das verbindende Dach einer EU wesentlich stärker spürbar und sichtbar.
  • Dänemark: Die rechtsnationale Dänische Volkspartei und die links-grüne Einheitsliste haben nach dem Brexit beide ein eigenes EU-Referendum gefordert. Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen wies dieses Ansinnen sofort zurück. Rasmussens liberale Minderheitsregierung benötigt allerdings die Dänische Volkspartei als „stillen Partner“.[8] Dänemark ist außerdem mit seinen zahlreichen Ausnahmen vom EU-Recht, etwa in den Bereichen Währung und Justiz, relativ gesehen – von der „Kern-EU“ auf Distanz.
  • Schweden: Anti-europäische Fliehkräfte sind in Schweden eher gering. Aktuellen Umfragen zufolge sind 60 Prozent der Schweden EU-Befürworter, wenn auch viele der Ansicht sind, dass die EU sich nicht in die gewollte Richtung bewege.
  • Finnland: Ministerpräsident Juha Sipilä von der finnischen Zentrums-Partei schloss ein EU-Referendum während seiner Amtszeit aus. Die euroskeptische Finnenpartei zeigt sich hingegen in dieser Frage gespalten. Während die Parteispitze gegen eine Abstimmung ist, will eine beträchtliche Anzahl ihrer Parteimitglieder an der Basis das Gegenteil.
  • Ungarn: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban bewertete die seiner Meinung nach falsche Flüchtlingspolitik der EU als wesentlichen Grund für den Brexit.[9] Einmal mehr befürwortet Orban deshalb in seinem Land ein EU-Referendum gegen verbindliche Flüchtlingsquoten, jedoch lehnt der Großteil der ungarischen Bevölkerung dies ab. Ein solcher Volksentscheid gegen Flüchtlingsquoten hätte allerdings keine direkten Auswirkungen, würde aber als ein neuerlicher Nachweis des offensichtlichen Misstrauens der Regierung Orban gegen die EU-Politik angesehen werden. Dem steht eine derzeit klare Mehrheit der Ungarn für den Verbleib Ungarns in der EU gegenüber. Dahinter verbergen sich nicht zuletzt finanzielle Faktoren: Ungarn ist mit fast 6 Milliarden Euro der zweitgrößte Nettoempfänger.
  • Österreich: In Österreich ist die Zustimmung zur EU seit dem EU-Beitritt 1995 konstant hoch. Derzeit sind laut Umfragen 60 Prozent der Österreicher für einen Verbleib ihres Landes in der EU. 31 Prozent sprechen sich für einen „Öxit“ aus. Die FPÖ will nur dann ein solches EU-Referendum in Österreich erreichen, wenn sich nach dem Brexit in der Union kein klarer Wille zu Reformen erkennen lasse oder wenn etwa die Türkei der EU beitreten würde.
  • Griechenland: Das ökonomisch angeschlagene Griechenland als die „Wiege der Demokratie“ unter dem linksgerichteten Ministerpräsidenten Alexis Tsipras versteht den Brexit als Bestätigung seiner Kritik an der vorherrschenden Austeritätspolitik in der EU im Zusammenhang mit der Konstruktion der Kreditgeber-Troika für Griechenland. [10] Europa habe ein „soziales und demokratisches Defizit“, meint er. Es brauche deshalb eine neue Vision für Europa. Ein Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone stehe für ihn außer Frage.[11] Auch die konservative Nea Dimokratia äußerte sich vorsichtig in Richtung eines „neuen Abkommens der Wahrheit“ in Europa bezüglich weiterer Investitionsprogramme. Nur die Kommunistische Partei Griechenlands und die radikale Linke um den früheren Energieminister Panagiotis Lafazanis treten für ein „Grexit“-Referendum ein.

 

Abgeschlossen am 4.7.2016

Wolfgang Taus

 

Anmerkungen:

[1] Interview mit Harold James in NZZ v. 2.7.2016, S.21/22.

[2] NZZ v. 4.7.2016, S.16.

[3] NZZ v. 2.7.2016, S.2.

[4] „Brexit: les eurosceptiques français réclament un référendum“. In: LE FIGARO-Online v. 24.6.2016: http://www.lefigaro.fr/politique/le-scan/2016/06/24/25001-20160624ARTFIG00060-brexit-les-eurosceptiques-francais-reclament-un-referendum.php

[5] „Spaniens Wahlpatt nährt Sorgen in EU nach Brexit-Votum“. In: DE.REUTERS.COM v. 27.6.2016: http://de.reuters.com/article/spanien-wahl-idDEKCN0ZD0E5

[6] „Catarina Martins anuncia referendo à Europa se houver sanções“. In: Online-Plattform SAPO.PT der portugiesischen Tageszeitungen „Diário de Notícias“ und „Público“: http://sol.sapo.pt/artigo/514581/catarina-martins-anuncia-referendo-a-europa-se-houver-sancoes

[7] „Niederländischer Rechtspopulist: Wilders scheitert mit Nexit-Plan“. In: SPIEGEL-ONLINE v. 28.6.2016: http://www.spiegel.de/politik/ausland/niederlande-geert-wilders-scheitert-mit-nexit-plan-a-1100313.html

[8] „Diese Länder könnten die nächsten Exit-Kandidaten sein“. In: DIE WELT-Online v. 25.6.2016: http://www.welt.de/politik/ausland/article156551217/Diese-Laender-koennten-die-naechsten-Exit-Kandidaten-sein.html

[11] „Tsipras in Brussels after Brexit shock, Podemos failure“. In: Ekathimerini-Com v. 27.6.2016: http://www.ekathimerini.com/209951/article/ekathimerini/news/tsipras-in-brussels-after-brexit-shock-podemos-failure

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