Auf dem Weg zu einer "öffentlichen Theologie"

Die deutlich im öffentlich-gesellschaftlichen Bewusstsein erkennbare verstärkte Gewichtung von Religion und religiösen Kontexten insbesondere in westlich-aufgeklärten europäischen liberal-demokratisch verfassten Gesellschaften bekommt angesichts der aktuellen Flüchtlingsströme zusätzliche Brisanz. Die europäischen Regierungen stehen vor der Mammutaufgabe, die vor Krieg, Chaos und Zerstörung geflohenen Menschen, die zu einem Großteil unterschiedlichen muslimischen Glaubensrichtungen angehören, in die westlich-aufgeklärten Lebenswelten demokratischer Post-Moderne (zumindest temporär) zu integrieren. Diese zunehmende kulturelle und religiöse Pluralisierung liberaler säkularer westlicher Gesellschaften führt einmal mehr die schon Jahre zuvor von der Wissenschaft konstatierte „Rückkehr des Religiösen“ in die Öffentlichkeit vor Augen.

 Am Beispiel der immer stärker werdenden politisch-islamischen (zum Teil auch fundamentalistisch-radikalen) Strömungen in westlich-liberalen, säkularisierten Rechtsstaaten fragt etwa der deutsche Religionsphilosoph Hans-Joachim Höhn nach der „prekären Wiederkehr“ des Religiösen in der Gesellschaft.[1] Der radikale Gegenentwurf zu westlich-aufgeklärter Lebens- und Denkweise kommt dabei längst nicht mehr von Verfechtern säkularer Utopien, die eine „religionslose Zukunft“ als ein erstrebenswertes Ziel der Moderne sehen. Mit ihrer unverhohlenen Verachtung des westlichen Zivilisationsmodells treten nach Meinung des Autors Islamisten, Salafisten und Dschihadisten auf den Plan. Sie seien nicht zuletzt eine der ungewollten Nebeneffekte „aufklärerischer“ Arrangements, die auf die gesellschaftliche Marginalisierung religiöser Traditionen drängen, weil man in ihnen ein Übermaß aufklärungsresistenter Anschauungen vermutet, so Höhn. Beim Aufkommen alter und neuer Formate religiöser Praxis angesichts einer „entgleisenden Modernisierung“ (Jürgen Habermas) ist nicht in jedem Fall ausgemacht, dass das Religiöse als gesellschaftliche Produktivkraft wirksam wird. Bei seiner Wiederkehr könne es sich auch um kulturelle und religiöse Rückschritte handeln. Sollten sich diese regressiven Kräfte in modernen Gesellschaften festsetzen, würden sie auch die unbestreitbaren Freiheits- und Fortschrittsgewinne von Säkularisierungsprozessen in Frage stellen. Eine Selbstsakralisierung religiöser Institutionen sei nicht weniger problematisch als ihre Selbstsäkularisierung. „Zu gewinnen“ sei für das Christentum als bisher Europa prägende Religion auf beiden Pfaden „kaum etwas“, hält Höhn fest. Bei allen Anstrengungen zu einer neuen Selbstvergegenwärtigung der Kirche in einer säkularen Gesellschaft gelte es den „Maßstab des entscheidend Christlichen“ nicht aus den Augen zu verlieren: die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe; das Ineinander des Mystischen und Politischen.

Das Grundrecht der Religionsfreiheit ist wie alle Grundrechte unteilbar. Ohne Offenheit für eine Pluralität an Religionen bleibe das Reden von Religionsfreiheit „reiner Etikettenschwindel“, betont unter anderem Höhn zu Recht und richtet diese Botschaft nicht nur an die „Wortführer eines islam(ismus)kritischen Alarmismus“, sondern auch an die „Kritiker eines islamfreundlichen Appeasements, das seine fundamentalistischen Ausläufer verharmlose“.[2]

 So befinde sich die heutige, vermeintlich „glaubensfreie“ westliche Gesellschaft in einer Krise, die das „Verschwinden Gottes“ scheinbar nach der „Entzauberung der Welt“ im Sinne Max Webers ausgelöst habe, konstatiert unter anderem der britische Kulturphilosoph und streitbare Linkskatholik Terry Eagleton. Dabei zeichnet er den Entwicklungsprozess nach, wie Gott den Rationalismus des 18. Jahrhunderts „überlebt“ hatte und nun eine „dramatische Wiederkehr“ feiert – in Form des religiösen Fundamentalismus.[3]

Die genuin christliche Deutung von Freiheit und Bindung besagt, dass frei nicht ist, wer in einer Multioptionsgesellschaft über die Option der unbeschränkten Verfügung über unbegrenzte Wahl- und Handlungsmöglichkeiten verfüge, sondern wessen „Freiheit jeder Option auf einen verfügenden Zugriff entzogen“ ist. Erst eine in diesem Sinn „befreite Freiheit“ erfülle den Sinnanspruch an ein freies und eigenes Leben, wie auch ein Gottesverhältnis erst dann „modernitätskompatibel“ ist, wenn es eine solche freiheitsbewahrende Bindung darstellt. Diese Logik der befreiten Freiheit widerstreite allen fundamentalistischen religiösen Strömungen nicht weniger als allen säkularistischen Behauptungen, dass ein Gottesverständnis nichts anderes als eine „Transzendenzbevormundung“ des Menschen sei. An dieser Sichtweise könne sich die christliche Theologie bei ihrer Analyse und Kritik von kulturell regressiven Formen einer Renaissance des Religiösen ebenso orientieren wie sie mit ihr Kriterien entwickeln könne, um radikalen Bestreitungen der Berechtigung eines religiösen Daseinsverhältnisses entgegenzutreten.[4] Religion ermöglicht den Umgang mit dem absolut Unvertrauten, all dem, von dem man nichts sicher wissen kann und das deshalb ein Mysterium bleiben müsse.[5]

So müsse gelten, dass ein Gemeinwesen, eine Kultur, Religion umso mehr Achtung verdienen, als sie die vom Gerechtigkeitsprinzip der gleichen Freiheit begründeten Menschenrechte achtet.

Zur Auflösung gegenwärtiger Herausforderungen pluralistisch-demokratischer Gesellschaften brauche es eine neue Rolle von Glauben und Religion, die die Menschen als „mitfühlende Gemeinwesen“ in Solidarität mit den Armen und Machtlosen sieht. Damit würde ein neues Kapitel im Verhältnis von Glaube, Kultur und Politik aufgeschlagen, folgert wiederum Eagleton.[6]

 Wenn liberal-aufgeklärte demokratische Gemeinwesen Werte relativieren und sie gleichzeitig in ihrer Vielfalt schätzen, wie etwa Andreas Urs Sommer betont[7], dann kann ein friedliches Miteinander funktionieren. Religionsfreiheit bedeutet aus dieser Perspektive nicht religionsfreie Öffentlichkeit, sondern die „Freiheit Gläubiger, sich einzubringen“.[8]

Am Ende steht die Achtung der Menschenwürde als gelebte Verantwortung für jeden einzelnen[9] – im Sinne einer Toleranz, die das Zugehen auf Menschen anderer Kulturen und Religionen miteinschließen müsse. Dazu gehört aber unbedingt auch eine „Politik des Augenmaßes und des Weitblicks“, um vorhandene Herausforderungen in demokratischen Rechtsstaaten optimal meistern zu können.

Wolfgang Taus

 


[1] Hans-Joachim Höhn, Gewinnwarnung – Religion – nach ihrer Wiederkehr, F. Schöningh 2015, 216 Seiten.

[2] Ebenda.

[4] Hans-Joachim Höhn, Gewinnwarnung, a.a.O.

[5] Diego Compagna (Hg.), Leben zwischen Natur und Kultur, Transcript 2015, 272 Seiten.

[6] Terry Eagleton, a.a.O.

[7] Andreas Urs Sommer, „Werte sind verhandelbar“. In: NZZ v. 14.3.2016, S.19.

[8] Martin Grichting, „Ein theologischer Diskurs ist nötig“. In: NZZ v. 27.11.2015, S.16.

[9] Bernhard Casper, Grundfragen des Humanen, F. Schöningh 2014, 180 Seiten.

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