BREXIT: DIE MACHT DER EIGENEN GESCHICHTE

Die Financial Times titelte dieser Tage „Geopolitical challenge: EU loses its second-biggest economy“. Ja, es ist eine geopolitische Herausforderung, die mit dem Brexit vom Zaun gebrochen worden ist. Die Brexit-Anhänger hielten ein Denkmuster hoch, das den Briten schmeichelt:

Das Vereinigte Königreich unterschiede sich vom europäischen Kontinent durch eine Kultur des Konsenses, ja durch eine Art „prästabilisierter Harmonie“, wobei alle „Gewitterfronten“ vom Festland aus aufgezogen seien. Doch trifft diese Sichtweise nicht ganz zu: Großbritannien hat blutige Bürgerkriege im 15. Und 17. Jahrhundert durchgemacht. Die nationale Souveränität wurde im 16. Jahrhundert erkämpft, im 17. Jahrhundert durch Thomas Hobbes theoretisch gefasst und im 19. Jahrhundert als Leitidee etabliert. Das British Commonwealth war nie ein wirksamer Staatenbund, es war eher eine elegante Lösung, das British Empire aufzulösen. hält etwa der britische Historiker Harold James fest.[1]

Winston Churchill stand für die Art der Briten, „semidetached“ zu sein, also „dazuzugehören, ohne wirklich dazuzugehören“. Churchill war zwar ein Skeptiker - aber mit historischem Tiefgang und Weitblick. Als Hitler-Deutschland im Sommer 1940 einen Teil Frankreichs besetzte, zögerte er keinen Moment, sich mit den Franzosen in einer politischen Union zu verbünden. Angesichts der großen Herausforderungen, vor der Europa heute steht (Eurokrise, Migrationskrise, Terrorismus etc.), würde Churchill ebenso wie damals zur EU und ihren Werten und Pflichten stehen, meint James.[2] Die Brexit-Abstimmung war letztlich eine „Selbstaufgabe des britischen Parlaments“, so sein Fazit. Zu einem geeinten Europa gebe es letztlich keine Alternative.[3]

„Der EU-Austritt des Britischen Königreichs werde dramatische Folgen haben. Die politischen und ökonomischen Risiken sind kaum abschätzbar – nicht für das Vereinigte Königreich und nicht für Europa“, schreibt auch der renommierte britische Historiker Niall Ferguson in einem Gastbeitrag im Handelsblatt[4].

Beispiele des britischen Skeptizismus gegenüber einem Eingreifen in die Händel am europäischen Kontinent gibt es im Verlauf der Jahrhunderte genug. Ein tragisch endendes Gegenbeispiel dafür war der britische Außenminister Lord Castlereagh. Als er die Allianz gegen Napoleon schmiedete und 1815 den Wiener Kongress mitgestaltete, wollte er, dass sein Land nicht „zweitklassig“ werde. Castlereagh war der festen Meinung, dass Großbritannien nur dann Frieden und Stabilität erreichen würde, wenn es sich entschieden im Mächtespiel am europäischen Kontinent als Schiedsrichter engagierte – zugunsten eines Gleichgewichts der Kräfte. Doch je mehr die Erinnerung an Napoleon verblasste, desto mehr wuchsen die Bündnisse zu einem System kollektiver Sicherheit, zu einer „europäischen Regierung“ zusammen, wodurch sich London jedoch nur umso stärker gezwungen fühlte, wieder eigene Wege zu gehen. Der zunehmende innenpolitische Widerstand gegen der von Castlereagh lancierten britischen Strategie eines aktiven Engagements am europäischen Kontinent führte zum Scheitern seiner Politik. Am Ende sah sich Castlereagh zwischen seinen eigenen Überzeugungen und den politischen Zwängen im Inneren ausweglos gefangen.

„Sir“, sagte er bei seiner letzten Unterredung mit dem britischen König 1822, „man muss Europa Lebewohl sagen. Nur Sie und ich kennen es; nach mir wird niemand mehr die Probleme des Festlandes verstehen.“[5] Kurz darauf beging Castlereagh Selbstmord. 

Wir haben keine Verbündeten auf Ewigkeit und wir haben keine dauerhaften Feinde. Unsere Interessen sind immerwährend. Und diese Interessen zu beachten ist unsre Pflicht[6], so der spätere britische Außenminister  und Premierminister Henry John Palmerston. Mit anderen Worten: Großbritannien würde sich – je nach Lage der Dinge und nur von seinen nationalen Anliegen gelenkt – das Recht vorbehalten, einen eigenen Kurs zu steuern. Es war eine Politik, die „Verbündete zu reinem Hilfspersonal degradierte oder ganz und gar überflüssig machte.“[7]

Großbritannien sollte von der geopolitischen Gemengelage einer wieder zunehmend von Machtpolitik geprägten Ordnung Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts profitieren. Hinsichtlich seiner eigenen Sicherheit hatte es sich nie auf das Kongresssystem verlassen. So entwickelte sich das British Empire in dieser Zeit zur Großmacht in Europa. Stark genug, um allein bestehen zu können, verfügte es zudem über den Vorteil geographischer Isolation („splendid isolation“) und wurde von inneren Unruhen auf dem Kontinent in dieser Phase nicht berührt.[8]

In dieser Hinsicht war die britische Auffassung von Sicherheit derjenigen der US-Isolationisten nicht unähnlich: In London wie in Washington sah man sich gegen jede Gefahr gefeit, es sei denn, es handelte sich um katastrophale Umwälzungen. Für London endete diese Sicht der Dinge spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Für Washington endete diese Sicht der eigenen territorialen Unverletzlichkeit mit 9/11.

Mit dem Brexit scheinen die alten geopolitischen Fragen auf dem europäischen Kontinent wieder verstärkt in den Blickpunkt zu rücken: Wer beherrscht Europas Mitte? Gelingt es einer Macht, den Kontinent unter ihrer Führung zu vereinen? Welche Rolle spielen die Flügelmächte Großbritannien, Russland und seit dem letzten Jahrhundert auch die USA?[9]

Der Westfälische Frieden brachte 1648 ein System souveräner Staaten hervor. Der Wiener Kongress konnte eine (wenn auch vorübergehende) Balance der damaligen Großmächte auf den Weg bringen. Nach zwei verheerenden Weltkriegen wurde mit den Institutionen EWG/EU und NATO eine weitgehende „europäische Integration“ geschaffen, um die Schatten der exzessiven Gewalt und Zerstörung am Kontinent endlich zu überwinden.

Auch wenn das „Projekt Europa“ nach 1945 ein stetes Ringen im Hintergrund um politisch-ökonomischem Einfluss war und ist und  der französische Präsident Charles de Gaulle (1959-1969) die Briten als „Trojanisches Pferd Amerikas“[10] betrachtete, so siegten in Westeuropa (insbesondere in der Bonner Republik) schließlich die „Atlantiker“ zugunsten einer verstärkten Integration der Angloamerikaner am Kontinent gegenüber den „Gaullisten“, die eine Europäische Politische Union (EPU) souveräner Mitgliedstaaten auch als Gegengewicht zu einer amerikanischen Hegemonie aufzubauen suchten. Auch die Einsicht Londons in den Jahrzehnten nach 1945, dass aktives Engagement und vor allem auch ökonomische Kooperation in der damaligen EWG klüger sei als passives Abseitsstehen, bewog die britischen Eliten letztlich zum Beitritt zur EWG und dann EU. So konnte Großbritannien direkt bis dato erfolgreich auf die stets skeptisch beäugten Entscheidungsprozesse der EU einwirken (mit aller energisch vorgetragenen Kritik und Forderung nach einer Reduzierung der britischen Beitragszahlungen etwa der britischen Premierministerin Margaret Thatcher mit den Worten: „I want my money back!“[11]).

Durch die EU wurde bisher ein Gleichgewicht der ungleichen Mächte Großbritannien, Frankreich und das nunmehr wieder vereinigte Deutschland, hergestellt. Mit dem Brexit dürfte Deutschland (nicht zuletzt aufgrund der allzu sehr ökonomisch-sozialen strukturellen Krisen in Frankreich) wieder eine Führungsrolle  am europäischen Kontinent einnehmen, die Berlin eigentlich gar nicht möchte. Mit Hilfe der EU kann Deutschland seine Interessen so durchsetzen, ohne dass dies bisher zu großem Widerstand bei den anderen EU-Mitgliedsländern geführt hat. Wenn der vielbeschworene europäische Integrationsmotor einer deutsch-französischen Kooperation schwächelt und Paris als „partner in leadership“  derzeit weniger in dieser schwierigen krisengeschüttelten europäischen Gemengelage nach dem Brexit gemeinsam mit Berlin zu „führen“ bereit zu sein scheint, so könnte sich am Ende dieses Entwicklungsprozesses möglicherweise ein „Europäisches Reich deutscher Nation“[12] herauskristallisieren.

Allerdings ist die geopolitische Lage Europas heute eine andere als etwa noch vor dem Ersten Weltkrieg oder in der Zwischenkriegszeit. Die USA werden (mit all den harscher vorgetragenen Forderungen nach einer wesentlich stärkeren europäischen militärischen Lastenteilung) als „europäische Schutzmacht“ gegenüber nunmehr wieder erhöhten Ost-West-Spannungen mit einem wiederaufrüstenden Russland aktiv engagiert und involviert bleiben. Dabei stellt die NATO die zentrale Klammer einer transatlantischen Partnerschaft dar.

Die EU als „Friedensprojekt“ wird vielleicht nicht in der bisherigen Architektur und Struktur verstanden werden können. Sie wird aber sicher als zentraler „Integrationsanker für Frieden und Stabilität sowie sozio-ökonomischem Wohlstand“ auf längere Sicht wieder an Attraktivität gewinnen, wenn sich der Staub der jetzigen krisenhaften Zeit wieder etwas gelegt hat. So werden auch die meisten bisherigen EU-Empfängerstaaten im Süden und Osten der Union kaum auf die Subventionen aus Brüssel verzichten. Letztlich liegt es im ureigenen Interesse der kleineren und schwächeren EU-Mitgliedsländer, die Macht der starken durch die EU-Institutionen über das Mittel der „Vergemeinschaftung“  zu begrenzen.

 

 

                               Abgeschlossen am 3.7.2016

Wolfgang Taus

Anmerkungen:


[1] Interview mit Harold James in NZZ v. 2.7.2016, S.21/22.

[2] Ebenda, S.21.

[3] Harold James, „The Brexit Revolt“. In: Project-Syndicate – The World’s Opinion Page-Online v. 24.6.2016: https://www.project-syndicate.org/commentary/brexit-revolt-eu-establishment-by-harold-james-2016-06

[5] Zitiert in Henry A. Kissinger, Die Vernunft der Nationen - Über das Wesen der Außenpolitik,  deutsche Ausgabe Siedler Berlin 1994, S. 93.

[6] Siehe dazu: Henry A. Kissinger: Die Vernunft der Nationen. A.a.O, S. 98.

[7] Ebenda, S. 97.

[8] „British Foreign Policy - Splendid Isolation - 1860-1905“. In: GlobalSecurity.org-Online: http://www.globalsecurity.org/military/world/europe/uk-forrel-isolation.htm

[9] NZZ v. 2./3.7.2016, S.1.

[10] Siehe dazu: Klaus von Dohnanyi, „Sie wollten doch sowieso immer nur Großmacht sein“. In: FAZ-Online v. 17.6.2016: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/klaus-von-dohnanyi-ueber-den-brexit-und-europa-14291266.html

[11] Siehe dazu: James Kirkup, „Margaret Thatcher: Conflict over Europe led to final battle“. In: THE TELEGRAPH-Online v. 8.4.2013: http://www.telegraph.co.uk/news/politics/margaret-thatcher/9980360/Margaret-Thatcher-Conflict-over-Europe-led-to-final-battle.html

[12] NZZ v. 2./3.7.2016, S.1.

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