Russlands Großmachtambitionen und der Westen - Es geht nur miteinander

Neuer Kalter Krieg?  Jüngst hat der russische Ministerpräsident Dimitri Medwedew bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2016 unverhohlen vom Beginn eines neuen Kalten Krieges Russlands mit dem Westen gesprochen und ergänzte: „Die Beziehungen zwischen Europäischer Union und Russland sind verdorben, in der Ukraine tobt ein Bürgerkrieg.“

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Untergang der UdSSR 1990/91 verminderten vor allem die europäischen NATO-Partner signifikant ihre Verteidigungsausgaben. Mit der Charta von Paris 1990 als grundlegendes internationales Abkommen über die Schaffung einer neuen friedlichen Ordnung am europäischen Kontinent nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Beendigung des Kalten Krieges zwischen den beiden bislang konkurrierenden Machtblöcken schienen territoriale Konflikte oder gar Kriege in Europa bis vor kurzer Zeit kaum mehr denkbar. Doch die russische Annexion der Krim und die Unterstützung der pro-russischen Separatisten in der Ostukraine durch den Kreml haben diese dennoch bittere Realität werden lassen. Russland hat im Gegensatz zu den Europäern seine Rüstungsausgaben seit dem Jahr 2000 um mehr als 200 Prozent gesteigert.

Während die russische Sichtweise auf den Ukraine-Konflikt eine konsequente Folgerung von russischer Seite auf die stets seit den neunziger Jahren vom Westen missachteten Warnungen Moskaus vor einer immer weiter nach Osten vorrückenden NATO-Erweiterung darstellt, sieht sich der Westen durch das macht- und militärpolitische Vorgehen Moskaus seit der russischen Georgien-Intervention 2008 nunmehr im seit 1991 souveränen Staat Ukraine brüskiert und herausgefordert. Eine gegenseitige sich verschärfende Sanktionierungsspirale hat die Ost-West-Beziehungen heute schwer in Mitleidenschaft gebracht.

Der Ukraine-Konflikt 

Vor diesem Hintergrund darf ich Ihnen mehrere aktuelle Bücher präsentieren, die sich mit dem Russland Wladimir Putins und dem anhaltenden Ukraine-Konflikt beschäftigen: So wagte sich die junge Journalistin der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“, Jutta Sommerbauer, jeweils zwischen und hinter die Fronten in der Ostukraine und berichtet auf ihrer gefährlichen Tour insbesondere aus „Neurussland“, wie es von Moskauer Seite heute heißt. Sie blickt in ihrem informativen Buch mit dem Titel „Die Ukraine im Krieg in die so genannten „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk, begegnet dabei zum Teil selbst ernannten Anführern und Kriegsfürsten, aber auch tschetschenischen Söldnern auf russisch-separatistischer Seite. Der blutige Krieg in der Ostukraine, der trotz mehrerer international mühsam erarbeiteter Waffenstillstände nie wirklich verstummt ist, hat bereits mehr als 9000 Tote gefordert. Die Hauptleidtragenden sind die Menschen, die hüben wie drüben der unmarkierten, mit Waffengewalt verteidigten Grenzen in den Bunkern und inmitten der Ruinen ihrer Häuser einem ersehnten Ende der erbitterten Kampfhandlungen entgegensehen. Dabei erzählt die Autorin aber auch von manchen ukrainischen Siedlungen und Dörfern, die durch günstige Zufälle oder auch durch Verhandlungsglück nicht in die Schusslinie des Krieges gekommen sind. Sie schildert bei ihrer langen Reise (unter anderem mit dem Intercity-Zug von Kiew bis an die Frontstadt Kostjantyniwka, die rund sechseinhalb Stunden dauert), wie sich eine eher „mitteleuropäisch geprägte Kulturlandschaft“ zu einer „Industrielandschaft“ sowjetischer Prägung veränderte. Die Denkmäler des ostukrainischen Donbass (Donezbecken) sind Schächte, Stahlwerke und Arbeitersiedlungen, hält Sommerbauer fest.

Von außen besehen, sind die Separatistengebiete weiße Flecken, oder in der ukrainischen Diktion „Terroristenhorte“. Doch für die Bewohner ist es ihre Heimat, und für die Vertriebenen das Zuhause, das sie verloren haben. Die Autorin geht in ihrem Buch auf die Spurensuche nach den Verantwortlichen, die den Konflikt „absichtsvoll eskalieren“ ließen. Sie zeigt auf, wie es passieren konnte, dass aus Freunden Feinde wurden und berichtet von so manchen selbst ernannten Warlords, von tschetschenischen Söldnern und russischen Speznas-Einheiten – den „grünen Männchen“ unter anderem bei der Annexion der Krim.

Nicht zuletzt aus Gründen machtpolitischem Strebens nach größerem Einflusses (insbesondere im so genannten „Nahen Ausland“) versucht der Kreml Schritt um Schritt die Ukraine als souveränen Staat für praktisch „nicht lebensfähig“ zu erklären.

Die anhaltende Debatte über ein angebliches „Scheitern“ der Ukraine ähnelt aus Sicht der Autorin an 1991. Auch damals zweifelten viele politische Experten insbesondere im Westen an den Überlebenschancen des neuen unabhängigen Staates Ukraine. Es ist wahr, dass die Entwicklung der Ukraine in den letzten 25 Jahren von Schwierigkeiten und vielen Rückschlägen geprägt war und ist. Doch gebe es „keinen Grund, voreilig ihren Nachruf zu verfassen“, bemerkt Sommerbauer. Abwegig sei auch das Bild, die „ganze Ukraine“ stehe im Krieg: Im sezessionistischen Donbass und auf der nunmehr von Russland annektierten Krim-Halbinsel leben heute rund 5 Millionen Ukrainer von insgesamt 45 Millionen. 47.000 Quadratkilometer des Landes – die Krim und die sezessionistischen Teilgebiete um Donezk und Luhansk im Osten – stehen außerhalb der Kontrolle der Regierung in Kiew. Das sind 12,8 Prozent der gesamten ukrainischen Landesfläche. Die Protestbewegung von 2004/2005 – bekannt als „Orange Revolution“ – war ein erster Versuch, aus der „postsowjetischen Starre“ zu entkommen. Der „Euromaidan“ von 2013/2014, der zum politischen Sturz des pro-russischen Präsidenten Viktor Janukowitsch führte, war neuerlich eine Bewegung für eine neue politische Kultur sowie ein „Ausdruck gestärkter nationaler Identität“, meint die Autorin. Durch die widerrechtliche Annektierung der Krim durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin waren und sind die politisch-ideologischen Gräben zwischen der pro-westlich ausgerichteten Regierung in Kiew unter Präsident Petro Poroschenko und dem Kreml noch nie so tief. Parallel dazu waren die ukrainischen Bürger (im „Westen“ wie im „Osten“ des Landes) noch nie so patriotisch.

Erst mit dem – vermutlich ungewollten – Abschuss des Passagierflugzeugs des Flugs MH17 durch eine Boden-Luft-Rakete von pro-russischen Einheiten im Juli 2014 wurde der internationalen Staatenwelt mit einem Schlag bewusst, dass in der Ostukraine nicht bloß eine schlecht ausgestattete „Armee von Patrioten“ gegen verwegene „Freischärler“ mit Kalaschnikows kämpfte. MH17 wurde zum „makabren Weckruf“ des Westens, welche Sicherheitsbedrohung von diesem weiterhin ungelösten Konflikt für Europa und die Welt ausgeht. Der Westen stellte sich daraufhin erstmals geschlossen gegen Moskau und verurteilte die Unterstützung der Separatisten durch den Kreml mit harschen Worten. Doch seitdem Russland seit September 2015 auf Seiten des Assad-Regimes in Syrien interveniert, versucht der russische Präsident Wladimir Putin den offenen Konflikt in der Ostukraine nicht weiter eskalieren zu lassen, um letztlich im Westen wieder verstärkt als notwendiger Partner im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus angesehen zu werden. Eine rasche politische Lösung im Donbass scheint dennoch unwahrscheinlich, hält Sommerbauer fest. Beispiele für ein ähnliches „Einfrieren“ des Konflikts gibt es im postsowjetischen Konfliktraum genug: Abchasien, Südossetien und Transnistrien.

Sommerbauers Fazit: Putin hat im „Ukraine-Abenteuer“ nicht die eigentlich gewünschten Ziele erreicht, nämlich die Einbindung des gesamten Nachbarlandes Ukraine in die „russische Welt“. Auf lange Sicht sei mit Ausnahme der Krim und der Ostukraine der große Hauptteil des ukrainischen Staates für Moskau „verloren“. Dennoch wird der Konflikt in der Ostukraine für Russland „am Köcheln“ gehalten. Er diene gewissermaßen als ein „Instrument der Destabilisierung“ für Moskaus weitergehende geopolitische Interessen, konstatiert die Autorin folgerichtig.

Was hat das für Konsequenzen für die EU? Die Ukraine-Krise hat in jedem Fall die außenpolitischen Schwächen der EU deutlich sichtbar gemacht. Die „Soft Power“ der Europäer ist dann mehr oder weniger wirkungslos, wenn sie auf klassische militärische Expansionsstrategien des Kremls trifft. Diese Schwäche, so Sommerbauer, könne nur auf längere Sicht schrittweise ausgeglichen werden: durch eine wirklich effektive, vertiefte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und intensiviertem europäischem Engagement in der europäischen Nachbarschaft. Dem ist voll und ganz zuzustimmen. Die EU müsse geschlossen gegenüber Moskau auftreten (in Krisenzeiten wie heute eine mehr als fragile Herausforderung).

Eine stillschweigende Akzeptanz der russischen Krim-Annexion dürfe von Brüssel niemals signalisiert werden: „Völkerrechtsbruch kann nicht im Nachhinein legalisiert werden“, so die Autorin. Dementsprechend gehe es nun darum, die eigenen Werte von  demokratischer Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte hoch zu halten, um trotz aller derzeit herrschenden Krisenstimmung in der EU wieder positiv nach vorne zu schauen.

Russland unter Putin  Der ehemalige russische Schachweltmeister, der heute im selbstgewählten Exil in New York mit seiner Familie lebt, Garri Kasparow, formuliert in seinem aufrüttelnden Buch mit dem Titel „Warum wir Putin stoppen müsseneine unmissverständliche Warnung. Wenn wir uns im Westen aus unserer „Komfortzone der Genügsamkeit“ losreißen und wieder lernen, den Diktatoren, die die moderne Welt bedrohen, die Stirn bieten, dann könne positiv „Geschichte geschrieben“ werden, so Kasparow. Die westliche Welt müsse ein reformiertes, auf Werten beruhendes System einmal mehr dem „Virus der Antimodernität“ entgegenstellen, erklärt er. Eine seiner letzten politischen Empfehlungen lautet für den seit 2012 Vorsitzenden der Human Rights Foundation, den Dissidenten zuzuhören, selbst wenn einem das nicht gefällt, was die Menschen zu sagen haben. Sie sind die „Stimme der Ausgeschlossenen, der Ignorierten, der Verfolgten“, so Kasparow.

Das aggressive Vorgehen Russlands unter dem ehemaligen KGB-Offizier und jetzigen Präsidenten Wladimir Putin insbesondere im Ukraine-Konflikt traf die „selbstgefällige“ freie Welt unvorbereitet, aber die Ausrede, keine wirksame Gegenstrategie bei der Hand zu haben, dürfe nicht mehr länger gelten, so Kasparow. Wenn Demokratien keine Strategie haben, an die sie sich halten können, dann verlieren sie gegen opportunistische diktatorische Systeme, die sehr viel schneller handeln können, da sie keiner Kontrolle unterworfen seien. Es dürfe keine neue „Appeasement-Politik“ des Westens gegenüber solchen hybriden Strategien der Destabilisierung eines russischen Nachbarlandes wie der Ukraine durch den Kreml geben, betont Kasparow bestimmt.

Der frühere Vorsitzende der „Vereinigten Bürgerfront“ und Mitbegründer der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung „Solidarnost“ zusammen mit dem Ende Februar 2015 ermordeten Mitstreiter Boris Nemzow, beschreibt die neue russische Demokratie, die aus den Trümmern der untergegangenen Sowjetunion hervorgegangen ist, den Aufstieg Putins zum Präsidenten Russlands nach der Jelzin-Ära – gefolgt vom sukzessiven Umbau der demokratischen Einrichtungen in autoritärere Machtorgane: die Gewaltenteilung, die Justiz, die Wirtschaft, die Medien. Viele Betriebe wurden verstaatlicht, der einst mächtige Yukos-Erdölkonzern des zentralen Regimekritikers Michail Chodorkowski zerschlagen, Chodorkowski selbst 2003 hinter Gittern gesteckt, 2013 begnadigt und seit 2015 nunmehr wieder von der russischen Justiz zur Fahndung ausgeschrieben. Auch Kasparow selbst wurde bei Demonstrationen der russischen Opposition mehrmals verhaftet, bevor er ins Exil ging.

Im Gegensatz dazu müssen die Menschenrechte und der Wert des Lebens die Grundlage der Politik einschließlich der Außenpolitik sein, meint er. Das schließe Verhandlungen und Handelsbeziehungen innerhalb bestimmter Grenzen nicht aus. Aber es dürfe nie ein Zweifel daran bestehen, dass die Beziehungen zu repressiven Regimen beschränkt sein werden, solange die Repression existiere, erklärt Kasparow. Ob ein friedlicher politischer Wechsel in Russland weg vom Putin-Regime möglich ist, bezweifelt er mittlerweile. Es gehe darum, dass der Westen insbesondere auf ökonomischem und diplomatischem Wege Druck auf den Kreml ausübt, um weitere kühl kalkulierte russische Machtprojektionen und Repressionen im Inneren des Landes wie im „nahen Ausland“, also der Sphäre des postsowjetischen Raumes, möglichst eindämmen zu können.

 

Stimme der Opposition  Die älteste Tochter des 2015 in Moskau ermordeten russischen Oppositionspolitikers Boris Nemzow, Schanna Nemzowa, geht mit ihrem Buch „Russland wachrütteln den Weg an die Öffentlichkeit. Es ist eine Anklage des herrschenden Regimes unter Putin. Für den Mord an ihrem Vater trage Putin die politische Verantwortung, so Nemzowa. Die 31-jährige Journalistin Nemzowa, die mittlerweile angesichts fortgesetzter Drohungen gegen sie in sozialen Medien in Deutschland lebt, hat dieses Buch geschrieben, als eine Art „Vermächtnis“ für ihren Vater und seine Vision einer wahren Demokratie in Russland. Dafür will sie sich einsetzen und die Menschen in Russland „wachrütteln“. So gebe es „kein normales Leben mehr in Russland, nur noch inszeniertes Theater“, hält sie fest. Nemzowa, die heute bei der Deutschen Welle arbeitet, erklärt Russland unter Putin zu einem „Unrechtsstaat“, der seine gut geölte „repressiven Maschinerie“ unter anderem für Desinformation und Propaganda insbesondere im Ukraine-Konflikt einsetze.

Boris Nemzow wurde 1997 stv. Premierminister unter Präsident Boris Jelzin und galt als einer der Hoffnungsträger im neuen Russland. Als Putin schließlich Ende der neunziger Jahre die Macht im Staate errang, ging Nemzow in die Opposition. Mehrmals wurde er verhaftet, warf Putin unter anderem „geistigen Terrorismus“ vor und wurde schließlich 2015 auf offener Straße erschossen. Nun setzt sich Nemzowa für eine volle Aufklärung des Mordes an ihrem Vater ein – möglichst unter internationaler Überwachung der polizeilichen Recherchearbeit.

„Ich kämpfe nur für Gerechtigkeit“, sagt sie unumwunden und will mit ihrer selbst ins Leben gerufenen Nemzow-Stiftung Studenten für Forschungen zur Gesellschaft und Politik in Russland gewinnen.

Zusammenfassend erklärt sie: „Ohne einen Wechsel der politischen Führung wird es keinen positiven Wandel in Russland geben.“ Das Land brauche den Wandel – zurück zu wirklich demokratischen Verhältnissen, schließt Nemzowa.  

 

Jutta Sommerbauer, Die Ukraine im Krieg, K&S 2016, 208 Seiten.

Garri Kasparow, Warum wir Putin stoppen müssen, DVA 2015, 416 Seiten.

Schanna Nemzowa, Russland wachrütteln, Ullstein 2016, 192 Seiten.

Persönliche Bewertungen insgesamt: ****

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