Gallien in der Spätantike und der Niedergang Westroms

 

Gallien in der Spätantike:   Die beiden hier dargelegten anonym überlieferten gallischen Chroniken, die nach den jeweiligen Endpunkten ihrer Berichte als „Chronik von 452“ und „Chronik von 511“ bezeichnet werden, können als Fortsetzungen der Chronik des Hieronymus verstanden werden und schildern aus ihrer jeweiligen Perspektive die Geschehnisse im Weströmischen Reich, vor allem aber Galliens, im 5. Jahrhundert.

Die Chronisten gewähren der Nachwelt einzigartige Einblicke in historisch so bedeutsame Prozesse wie die fortgeschrittene Völkerwanderung und den Zerfall des Weströmischen Reichs, die dazu führten, dass das römische Gallien sukzessive unter die Verwaltung und Dominanz germanischer Völker gelangte. In beiden Texten, die hier erstmals in einer vollständigen deutschen Übersetzung vorliegen und sowohl philologisch als auch historisch kommentiert werden, wird somit der Übergang von der Antike zum Mittelalter in West- und Mitteleuropa dokumentiert.  Die Einnahme Karthagos durch die Vandalen 439 n. Chr. schwächte die Macht des Weströmischen Reichs und war damit auch ein Problem für Südgallien, das seinerseits ohnehin schon am fortgesetzten Rückzug der römischen Zentralmacht litt. Diese Relevanz des Verlustes der weströmischen Provinz Africa in Bezug auf Gallien war für den Chronisten der eigentlich interessante Aspekt. Nach dem Verlust Karthagos wird dann auch nichts mehr über Africa berichtet, auch nicht über die homöische Verfolgung katholischer Christen, obwohl der häresiologische Schwerpunkt des Textes auf dem Arianismus liegt. Diese Häresie erscheint dem Chronisten aber hauptsächlich als gallisches Problem, welches durch die Schwächung der römischen Macht in den Provinzen des Reichs zwar geschaffen und verstärkt wurde, in seinen Auswirkungen aber maßgeblich auf Gallien bezogen bleibt. Dieses Muster lässt sich in den Informationen über Spanien und Britannien ebenfalls greifen. So wird das Schicksal des Reichs immer wieder in Relation zum unmittelbar erfahrenen Schicksal in der gallischen  Heimatprovinz der Chronisten gestellt. Dass damit die Berichte aus anderen Regionen des Reichs immer unter südgallischer Perspektive ausgewählt werden, erweist die erstmals von Mommsen gewählte Bezeichnung „Gallische Chronik“ nicht nur hinsichtlich des Entstehungsorts des Textes als treffend, betonen die beiden Autoren dieses ungewöhnlichen, aber wichtigen Buches.

Geschichte des Niedergangs  Für die Chroniken stellt die Geschichte des weströmischen Reichs seit 378 sowohl in politisch-militärischer als auch in kirchlicher Hinsicht eine Geschichte des Niedergangs dar. Vor dem Hintergrund der Abfassungszeit der Texte wird dies verständlich: Ein Autor, der sich zum einen mit Invasionen der Hunnen in Gallien und Italien, zum anderen mit dem Vordringen anderer Völker auf Reichsgebiet konfrontiert sah, konnte sich durchaus die Frage stellen, wie es zu diesen Entwicklungen hatte kommen können. Den verheerenden Zustand der eigenen Zeit kontrastiert mit einer positiv gesehenen Ausgangszeit, die aber ihrerseits wiederum auf einer Erholung vorhergehender Verhältnisse aufbaute.

Hieronymus hatte seine Chronik mit dem Tod des Valens in der Schlacht von Adrianopel gegen die Goten im Jahr 378 enden lassen, weshalb es laut dem fortsetzenden Chronisten von 452 nun der vereinten Anstrengungen politischer und kirchlicher Akteure bedurfte, um die Situation zu stabilisieren. Diese Anstrengungen seien erfolgreich gewesen, weshalb die Herrschaft des Theodosius I. in der Chronik als Phase größtmöglicher Stabilität zu gelten hat. Diese Stabilität zeigt sich dabei zum einen auf politisch-militärischer Ebene in der Abwehr barbarischer Völker und der Wiederherstellung des „erschöpften Staatswesens“, zum anderen auf kirchlicher Ebene im entschlossenen Vorgehen gegen Häresien, gerade gegen diejenige der Arianer.

Der Arianismus geht auf einem ihrer frühen Vertreter, Arius (ca. 260–336 n. Chr.), zurück. Der Arianismus weist das spätere Dogma der Dreifaltigkeit Gottes als Irrlehre zurück. Aus Fremdsicht der Christologie stehen die Arianer (Homöer) im Gegensatz zur Trinitätslehre und werden von den christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften, die die ersten beiden ökumenischen Konzilien (325 und 381 n. Chr.) anerkennen, als Häresie angesehen.

Ein wünschenswerter Zustand des Reichs, wie er für den Chronisten unter Theodosius I. verwirklicht war, kennzeichnet sich also durch die gleichzeitige Abwesenheit sowohl barbarischer Völker als auch christlicher Irrlehren. Diese zweifache Abwesenheit von Bedrohungen ist dann bereits unter den Theodosius-Nachfolgern Arcadius und Honorius Rückschlägen ausgesetzt, die Stabilität wird abermals prekär: Während von außen wieder vermehrt barbarische Völker ins Reich eindringen, kommt es im Innern des Reichs zu zahlreichen Aufständen und Usurpationen. Auf kirchlicher Seite berichtet die Chronik verstärkt von Häresien und vom fehlerhafter Haltungen kirchlicher Autoritäten. Zwar gelingt es Honorius, alle Usurpationen niederzuschlagen, und religionspolitisch legen die kaiserlichen Brüder, ganz in der Tradition ihres Vaters, anfangs ein energisches Vorgehen an den Tag; auch kirchlicherseits werden Häresien entweder zurückgewiesen oder aber verschwinden aus dem Bericht. Dennoch gelingt es Staat und Kirche nicht mehr, allen Herausforderungen Herr zu werden. Es wird deutlich, dass die weströmische Regierung nicht mehr dazu in der Lage war, eingedrungene Völker vom römischen Boden zu verdrängen. Teilweise bewirkte sie sogar das Gegenteil: So sei der Einfall mehrerer Völker – gemeint ist der Rheinübergang der Vandalen, Alanen und Sueben im Winter 406/07 – einem Verrat des magister militum Stilicho anzukreiden, während der spätere Kaiser Constantius 418 die Westgoten in Aquitanien ansiedelte. Mit der Rückkehr barbarischer Völker geht auch eine theologisch problematische Entwicklung einher, nämlich das Wiedereindringen des Arianismus ins Reich.

Die Schlussbewertung zur Herrschaft des Honorius bringt diese Rückschläge und die Verantwortlichkeit für sie in aller Deutlichkeit auf den Punkt: Der weströmische Kaiser habe ein „durch viele Rückschläge stark zerrüttetes Reich“ hinterlassen. Vor dem Hintergrund der vorherigen theodosianischen Stabilität bedeutet das in erster Linie, dass die Integrität des Reichs in ethnischer und orthodoxer Hinsicht nicht mehr gegeben war. Dieser Niedergang setzte sich dann unter den Nachfolgern des Honorius noch fort, denen zunehmend auch charakterliche Qualitäten fehlen würden, um die vom Vorgänger geerbten Verwundungen des Reichs zu heilen.

Der Verfallsprozess des weströmischen Reiches nach Honorius findet spätestens dann einen neuen unrühmlichen Höhepunkt, als die Regierung in Ravenna versucht, das letztlich durch ihren selbstverschuldeten Rückzug aus den Provinzen entstandene politisch-militärische Vakuum ausgerechnet durch die Ansiedlung barbarischer Völker zu füllen. Die konstatierte Ohnmacht des Reichs findet ihre Bestätigung schließlich in der Bedrohung durch die Hunnen.

Das Ende der römischen Herrschaft in Africa, Britannien und Spanien widerspiegelt sich in den ebenfalls zerrüttenden und zunehmend instabilen Verhältnissen in der Provinz Gallien, von denen die Chronisten berichten. So sei zu jenem Zeitpunkt „keine Provinz im Reich mehr frei von barbarischen Bewohnern“, heißt es.

 

Höchst lesenswert.

 

Carlo Scardino/Jan-Markus Kötter, Gallische Chroniken – Kleine und fragmentarische Historiker der Spätantike, Schöningh 2017, 264 Seiten.

 

Bewertung: *****

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