EUROPA INMITTEN MASSIVER GEOPOLITISCHER VERÄNDERUNGEN
Jenseits gegenseitiger Schuldzuweisungen des Westens und Russlands vor dem Hintergrund des russischen Einmarsches in der Ukraine versucht der Autor die geopolitischen, geoökonomischen und sozio-kulturellen Hintergründe und Zerwürfnisse aufzuzeigen. Konkret geht es dem Autor um das "Wesen dieser Gegnerschaft". Es ist gewissermaßen ein Versuch, zu erklären, "wie das Fundament des heutigen Westens mit der Frontstellung gegenüber Russland verflochten ist, ja ob nicht vielleicht sogar der unsere Gegenwart bestimmende Niedergang des Westens darin seine Ursache hat?"
Europa und der "Westen" werden gemeinhin seit der Phase des Kalten Krieges im 20. Jahrhundert überlappend verstanden. Die sogenannte transatlantische Gemeinschaft erstreckt sich über zwei Kontinente - als eine internationale Staatengemeinschaft mit dem politischen Entscheidungszentrum USA und einem Europa, dessen "verbindendes Element von einer gemeinsamen Außen-, Sicherheitspolitik sowie einer gemeinsamen ideologischen Orientierung im Rahmen der NATO" geprägt ist.
Während die Vereinigten Staaten von Amerika letztlich geschichtlich ein sehr junger Staat sind, verbindet den alten Kontinent Europa eine mindestens 2500 Jahre alte Geschichte. Bei aller inner- und außereuropäischer Kriegswirren und Machtpolitiken aller Epochen, gehören das "Erbe der Antike, die Prägung durch das Christentum, der Humanismus, die europäische Kunst, Musik, Literatur und Philosophie, die Ansprüche der Aufklärung und schließlich die Erinnerung an zwei Weltkriege und an den Kalten Krieg" dazu. Der "Westen ist somit über weite Strecken europäische Kulturgeschichte" mit all ihren Licht- und Schattenseiten.
Was ist der Wesenskern des Westens? - fragt der Autor. "Ist es Demokratie oder der Imperialismus" europäischer Prägung? Die USA (seit1776) übernehmen im Laufe ihre Entwicklung zuerst Teile des früheren spanischen Imperiums in Übersee und avancieren spätestens nach 1945 zum inoffiziellen Nachfolger des British Empire. Die Vereinigten Staaten sind somit das "letzte Glied in der langen Abfolge europäischer Imperien", so der Autor. Der heutige Westen ist im Kern das Ergebnis von "Frontverläufen und Kriegsausgängen, die vom Ersten über den Zweiten Weltkrieg bis zum Kalten Krieg reichen". Das westliche Verteidigungsbündnis NATO begründet sich auf dem Narrativ, die "Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen". Für den Autor scheint die NATO aber mehr einer Machtlogik als einer demokratischen Wertekultur zu folgen. Die NATO habe 1989 die historische Chance verstreichen lassen, die sich im Dezember 1991 auflösende UdSSR und damit den aus der sowjetischen "Konkursmasse" entstehenden Nachfolgestaat, die Russische Föderation, in den Westen zu integrieren. Es war die Sowjetunion, "die durch Erfüllung der amerikanischen Bedingungen (ein wiedervereinigtes Deutschland in der NATO mit amerikanischer Truppenpräsenz - einschließlich von Nuklearwaffen -) den Weg zur deutschen Einheit frei machte und zudem noch seine Truppen aus dem gesamten sowjetischen Einflussbereich Osteuropas abzog", hält der Autor fest. Dahinter stand der "Wunsch Russlands, wieder ein Teil Europas zu sein und erneut intensive Beziehungen zu Deutschland aufzubauen". Das in der Ära der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel eingefädelte North Stream-Erdgasgeschäft Deutschlands mit Russland sollte zu einer wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit münden.
Vor dem Hintergrund des am 22. Februar 2022 ausgebrochenen Ukraine-Krieges beendete Berlin abrupt die Kooperation. Zudem wurde die North Stream-Pipeline zum Opfer einer offensichtlich feindseligen Unterseesprengung. (Bis heute sind die Täter nicht dingfest gemacht worden.)
Nach dem Ende des Kalten Krieges standen die USA als einzig verbliebene Weltmacht am Höhepunkt ihrer imperialen Machtentfaltung von Hard und Soft Power. Der westliche Lebensstil (Hollywood, Trends, Moden etc.) hatte schon im Verlauf des Kalten Krieges stillschweigend auch im östlichen Machtbereich eine besondere gesellschaftliche Anziehungskraft. Doch mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums war der geistig-kulturelle Einfluss nicht nur in der westlichen Welt, sondern auf globaler Ebene enorm.
Aus Sicht des Autors sei Europa nach 1945 schrittweise "verwestlicht" worden (meint von den USA "hegemonisiert"), während das geschichtlich erst sehr junge Konzept des globalen "Westens" (mit seinem Schaltzentrum USA) nach dem Fall des Sowjetimperiums 1989/1990 auch über die ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten Osteuropas übergestülpt wurde. Der "Grundfehler" seit dem Fall der Berliner Mauer war es, dass sich die Vereinigten Staaten als "Sieger" des Kalten Krieges gegenüber Russland präsentierten, während sich das von Moskau präferierte Friedenskonzept von "Wladiwostok bis Vancouver" nicht etablieren konnte. Vielmehr sei die NATO bis an die Grenzen Russlands herangerückt. Das habe schließlich Russland sukzessive auf Konfrontationskurs zum Westen gebracht. Der laufende Ukraine-Krieg, der seine Wurzeln bereits 2014 habe, sei heute im Kern ein "Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland" um geopolitische Einflusszonen.
Dahinter stehen geostrategische Verwerfungen zwischen einem globalem Westen und einer sich etablierenden Gegenkoalition der BRICS+-Staaten unter Führung Chinas und Russlands.
Heute allerdings konstatiert der Autor, dass der Westen unter Führung der USA zunehmend an Strahlkraft auf der Weltbühne verliert. Der Westen stehe heute eher "für Sanktionen, Intervention und ideologische Bevormundung" als auf dem Wert der im Ausland nachzuahmenden weltweiten Verteidigung der demokratischen Freiheit, kritisiert der Autor.
Das rund 100 Jahre alte strategische Konzept des "Westens" dürfte aus Sicht des Autors in einer zunehmend multipolaren Welt mit dem Aufstieg bzw. Wiederaufstieg vor allem Chinas, Russlands, aber auch Indiens langsam verblassen. Europa mit seiner 2500-jährigen Vergangenheit sowie mit seinen 500 Jahren der europäischen Neuzeit - bei allen finsteren Schatten- und Lichtseiten - müsse sich neu erfinden. Eine Rückbesinnung Europas auf seinen Humanismus sowie auf seine Ansprüche der Aufklärung im Zusammenhang mit den Traditionen in Kunst und Kultur tut Not.
Der Autor sieht in der reichhaltigen Kunst- und Kulturgeschichte des Alten Kontinents die "Keimzelle" dieser "Neuerfindung" bzw. "Wiederbelebung" Europas, um schließlich auch eine politische und wirtschaftliche Souveränität wiederherstellen zu können.
Wolfgang Taus
Hauke Ritz, Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas. Promedia Wien 2024, 264 Seiten.
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