Atem ist Leben
In unserer reizüberfluteten, hektischen Zeit fehlt uns Menschen buchstäblich die Luft zum Atmen. Wir hetzen durch den Alltag, fühlen uns gestresst, überfordert, nicht mehr mit uns im Einklang. Nachts finden wird keinen erholsamen Schlaf und am nächsten Tag beginnt das "Hamsterrad" des Alltags von neuem. Durch Stress und "Multitasking" werden unsere Nerven überbeansprucht. Womöglich leiden wir sogar unter Angstattacken, Asthmaanfällen, Migräne, chronischen Atemwegserkrankungen, Gastritis, bis hin zum "Burn Out". Burn Out ist heute schon fast zu einem Modewort avanciert, das scheinbar die betroffene Person "adelt", wie ein Orden, den man für besondere Verdienste erhält.
Der innere Heiler Vor diesem besorgniserregenden Hintergrund in unserer spannungsgeladenen Leistungsgesellschaft wissen die meisten Menschen gar nicht, dass wir einene Freund, Helfer und Heiler ganz nah bei uns haben: unseren Atem. Die Münchner Atemtherapeutin Helga Segatz will mit ihrem Buch über den Atem Abhilfe schaffen und dem Leser die tieferen Hintergründe und Zusammenhänge des Atmens gemeinsam mit praktischen Übungen im Alltag vermitteln.
Atem als lebendiges miteinander verbundenes Sein Atem ist viel mehr als nur ein Gasaustausch, also das Aufnehmen von Sauerstoff und Abgeben von Kohlendioxid, sondern ein lebendiges miteinander verbunden Sein mit der ganzen Schöpfung. Atem ist Leben, denn ohne Atem existiert kein Leben. Vom ersten Atemzug des Neugeborenen bis zum letzten Seufzer des Sterbenden begleitet der Atem uns ein ganzes Leben lang. Der Atem beginnt nicht erst nach der Geburt mit dem ersten Schrei des Babys. Schon im Mutterleib atmen die Zellen des Fötus und werden durch das Blut der Mutter mit Sauerstoff versorgt. Von Geburt an sind wir uns der Wichtigkeit des Atems gar nicht richtig bewusst. Pro Tag machen wir ca. 20.000 Atemzüge, die automatisch unbewusst geschehen. Wenn wir nicht genügend atmen, werden unsere Organe mit zu wenig Sauerstoff versorgt. Geschieht dies über einen längeren Zeitraum hinweg zu wenig, dann schädigen wir unsere Gesundheit und werden krank.
Atem und Seele Für unser seelisches Gleichgewicht ist der Atem ein entscheidender Faktor. Denn Körper und Seele sind unterennbar verbunden. Wie ein Seismograph reagiert der Atem auf Handlungen, Gefühle und äußere Umstände. Er spiegelt gewissermaßen unseren emotionalen Zustand wider. Wenn wir nervös sind, atmen wir schneller. Sind wir entspannt, fließt der Atem ruhig. Wir halten vor Angst die Luft an, seufzen vor Erleichterung oder stöhnen vor Anstrengung. Wissenschafter haben herausgefunden, dass schüchterne Menschen flacher atmen, während selbstbewusste Menschen tiefere Atemzüge machen.
Tief durchatmen Man stelle sich folgende Situation vor, die jeder wahrscheinlich schon einmal in seinem Berufsalltag erlebt hat: Statt bei einer ungerechten Bemerkung unseres Chefs vor Wut zu explodieren, atmet man erst einmal tief durch, gewinnt die Oberhand über die eigene Empörung und reagiert beherrscht, um seinen Arbeitsplatz nicht zu gefährden. - Hier zeigt sich ganz deutlich, wie eng Atem und Gefühle miteinander verbunden sind und wie sich die Emotionen durch den Atem beeinflussen lassen. Selbst in der Medizin setzt man inzwischen auf gezielte Atemübungen, um psychische Leiden wie Angstzustände und Depressionen positiv zu beeinflussen.
Gähnen Die Autorin möchte dem Leser die ungeheure Kraft des Atems näherbringen. Gähnen etwa kann den Blutdruck und den Herzschlag erhöhen sowie die Lungenfunktion verbessern. Auf Magnetresonanztomographenbildern kann man sehen, dass im Gehirn beim Gähnen dieselben Areale aktiv sind wie bei der Selbsteinschätzung oder dem autobiographischen Gedächtnis. Außerdem sind dieselben Neurotransmitter aktiv, die Emotionen und Appetit beeiflussen. Ganz gleich, was die Wissenschaft noch herausfinden wird, gilt aus Sicht der Autorin: Gähnen versorgt uns mit mehr Sauerstoff, entspannt die häufig verkrampften Kiefergelenke, löst ein wohltuendes Räkeln und Dehnen aus und entspannt dadurch den Körper.
Vollatmung Die Vollatmung versorgt uns mit einem Höchstmaß an Atemenergie. Sie fördert Wachheit und Konzentration. Wenn Sie etwa für längere Zeit vor dem Computer sitzen und ihre Konzentration nachlässt, dann treten Sie ans offene Fenster und machen ein paar tiefe Atemzüge. Sie werden sich dann wieder frisch und dynamisch fühlen - ohne Unmengen an Kaffee in sich zu schütten.
Atem als Grundnahrungsmittel Sauerstoff ist lebenswichtig für die Atmung und das Wachsen von gesunden Zellen in unserem Körper. Der Atem ist also ein Grundnahrungsmittel. Wenn im Blut zu wenig Sauerstoff und zu viel Kohlendioxid enthalten sind, dann erhöht das Atemzentrum sofort die Atemfrequenz, damit wir mehr Sauerstoff aufnehmen und mehr Kohlendioxid abgeben. Wenn wir uns anstrengen, Joggen oder schwere Lasten heben, dann atmen wir deutlich schneller als normal. Kommen wir wieder zur Ruhe, nimmt der Sauerstoffbedarf ab und es wird weniger Kohlendioxid produziert. Demzufolge sinkt auch die Atemfrequenz. Wir atmen langsamer und Entspannung tritt ein.
Helga Segatz versucht auf sehr offene und einfühlsame Weise durch das Atmen die tiefe Verbindung von Körper, Seele und Geist herauszuarbeiten. Mehr als lesens- und anwendungswert.
Helga Segatz, Einfach atmen, Rowohlt 2018, 176 Seiten
Bewertung: *****