Anregungen zum Nachdenken

Der ehemalige SPD-Finanzsenator, Ex-Bahn- und Bundesbankvorstand, Thilo Sarrazin, gilt seit seinem ersten Buch „Deuschland schafft sich ab“ (2012) für viele als „Querulant“ und „unliebsamer Querdenker“.  In seinem ersten Buch wurde die Zuwanderung insbesonders nach Deutschland kritisch unter die Lupe genommen.  Dann folgte „Europa braucht den Euro nicht“ und 2014 „Der neue Tugendterror“, wo die Medienkritik im Vordergrund stand. 2016 folgt mit seinem neuersten Buch „Wunschdenken“ eine umfassende kritische Betrachtung im Spannungsfeld zwischen europäischem Zusammenhalt, Euro-Währung, Bildung und Einwanderung. Er führt die Leserschaft auf die häufigen Fehler hin, die die Politik immer wieder aus „Unwissenheit, Anmaßung, Bedenkenlosigkeit, Egoismus, Betrug und Selbstbetrug“ begeht, so sein schonungsloses Urteil. „Wir werden generell weit unter unseren Möglichkeiten regiert  - auch das Deutschland der Gegenwart“, hält er fest und meint damit vor allem die „Willkommenskultur“ der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). „Wer als deutscher Politiker der Meinung ist, dass alle Menschen auf der Welt, sobald sie die deutsche Grenze passiert haben, vor dem deutschen Grundgesetz die gleichen Rechte und an den Sozialstaat die gleichen Ansprüche haben sollte, wird eine andere Flüchtlings- und Einwanderungspolitik betreiben als jener, der die Interessen der  deutschen Bevölkerung in den Mittelpunkt stellt“, schiebt Sarrazin nach.

Merkel wünsche sich den „Lauf der Welt“ eben anders, als er dies in seinem Buch  „Deuschland schafft sich ab“ beschrieben habe, betont er. Damals wurde Sarrazin nicht zuletzt auf Betreiben Merkls aus dem Vorstand der Deutschen Bundesbank entlassen.

Und er legt nun in seinem neuen Buch nach: Angela Merkel antworte am 15. September 2015 auf die Kritik an ihrer Entscheidung, die deutschen Grenzen für die Flüchtlinge über die Balkanroute zu öffnen: „Whttps://images-na.ssl-images-amazon.com/images/I/51Os7i-hxOL._SX311_BO1,204,203,200_.jpgenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen in freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ – Für den Autor war dies „die größte politische Torheit", die ein deutscher Regierungschef seit dem Zweiten Weltkrieg beging. Sie wurde moralisch begründet, während ihre Nebenwirkungen „verdrängt und missachtet“ wurden und werden, so Sarrazin. „Gutes Regieren brauche Werturteile.“  Soll politisches Handeln aber erfolgreich sein, so würden „moralische Maßstäbe“ nicht ausreichen.

Oberster Maßstab  Der oberste Maßstab für gutes Regieren sei in Ableitung der Überlegungen des englischen Philosophen Jeremy Bentham (1748 – 1832) das individuelle Wohlergehen jedes Einzelnen in einer politischen Einheit – von der Gemeinde bis hinauf zum Staatsganzen. Als Maßstab für staatliches Handeln ergebe sich daraus, dass der Staat eine doppelte Aufgabe habe: er muss einerseits dem einzelnen Bürger den Freiheitsraum sichern, den er braucht, um sein individuelles Glück zu verfolgen. Andererseits müsse er jeden Einzelnen vor der Gewalt der anderen schützen. Dabei gehe es um die Verbindung von Freiheit und Sicherheit. Ein Staat, der beides gewährleistet, kann nur ein starker Staat sein, denn er müsse die Freiheit und Sicherheit des Individuums garantieren und gleichzeitig alle Mitglieder der Gesellschaft insoweit überwachen, dass niemand durch Übergriffe der Freiheit und Sicherheit andere Gefährde. Ebenso müsse das Handeln des Staates „frei von Willkür“, also durch Gesetze gebunden sein. Aus der Logik von Benthmas Politikmaßstab erwächst nicht nur die Rechtfertigung eines starken Staates, sondern auch die Konsequenz einer großen Toleranz: Alle menschlichen Überzeugungen, Neigungen und Verhaltensweisen würden sich der Bewertung von außen entziehen, solange sie die Freiheit, die Sicherheit und das Wohlbefinden anderer nicht gefährden. Die Freiheit der Religionsausübung ist deshalb eine Selbstverständlichkeit, hält Sarrazin mit Recht fest. Dann provoziert der Autor, indem er betont, dass ein Staat, der die Sicherheit des Bürgers vor seinen Mitbürgern gewährleisten soll, „immer auch ein Überwachungsstaat im gut gemeinten Sinne“ sein müsse. Videokameras der Polizei auf Straßen und Plätzen zur Beobachtung krimineller Handlungen sind dementsprechender Ausfluss von Benthams Definition der öffentlichen Wohlfahrt, so der Autor. Hier muss allerdings festgehalten werden, dass diese notwendigen Überwachungsmaßnahmen des Staates und seiner Behörden nicht umgekehrt zur Willkür „totaler Ausspähung“ (im Sinne der Strategie des US-Abhördienstes NSA) führen dürfen.

Sarrazins Credo  Sarrazins Credo lautet denn auch in Kombination mit Kants kategorischem Imperativ: “Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“. Benthams Wohlfahrtsdefinition zielt auf das Verhalten des Staates und Kants kategorischer Imperativ auf das Verhalten des Individuums. Doch gebe es zwischen „Staat“ und „Individuum“ eine „Lücke“ zwischen allgemeinen Prinzipien und jenen konkreten Maßstäben, an denen sich Erfolg und Qualität politischen Handelns messen lassen würden, fügt der Autor hinzu. Die Kunst guten Regierens bestehe darin, „die Stabilität und Entwicklungsfähigkeit einer Gesellschaft nicht zu gefährden und nach Möglichkeit sogar zu fördern, indem man ein Maximum an Freiheit für unterschiedliche Lebensstile und Wertesysteme verbindet – mit einem Optimum an Stabilität im Hinblick auf gewaltfreiheit, Autorität, geistige Offenheit, Felxibilität und Sicherheit“.

Sarrazin hält den Leser wiederum mit umfangreichem statistischem Datenmaterial in Atem: Die vom westlichen Abendland ausgehende wissenschaftlich-technische Revolution hat durch bessere Ernährung und sinkende Sterberaten einen Anstieg der Weltbevölkerung auf das Siebenfache ermöglicht. Dabei gebe es sowohl eine gute Nachricht wie eine schlechte.

Die gute Nachricht: In großen Teilen der Welt hat die gesunkene Sterberate eine Modernisierung der Lebensstile ausgelöst, die zu sinkenden Kinderzahlen führte.

Die schlechte Nachricht: In Subsahara-Afrika habe diese Modernisierung bisher nicht oder nicht ausreichend stattgefunden. Von der Sahara bis Kapstadt bringe jede Frau im Schnitt zwei Mädchen zur Welt, was rein mathematisch heißt, dass sich die Bevölkerung dort in jeder Generation verdopple. (S.349) In Nordafrika und im westlichen Asien sei die Geburtenrate auch noch zu hoch, aber sie sei immerhin im Sinken begriffen, hält Sarrazin fest.

Vom Ende der Kolonialzeit (1965) bis 2015 – also in nur 50 Jahren – hat sich also die Bevölkerung in Subsahara-Afrika fast vervierfacht. Und bis 2100 werde sie sich nach Prognosen der UNO erneut vervierfachen. Subsahara-Afrika mit dem höchsten Bevölkerungswachstum der Welt ist gleichzeitig die Region mit den blutigsten Kriegen, der größten Korruption, den meisten „failed  states“, den größten Hungersnöten – mit einem signifikanten Anteil an Leistungen der internationalen Entwicklungshilfe.

Sarrazin stellt wiederum die provozierende Frage: „Müsse der Westen (insbesonders Europa) in irgendeiner Weise moralische Schuld an den ernüchternden Verhältnissen in den Ländern Subsahara-Afrikas auf sich laden?“ Seine Antwort ist durchaus wertend gemeint: „Nein“. Die Europäer würden keine moralische Verantwortung dafür tragen, die zu dem starken Bevölkerungswachstum in diesen Ländern führen. Diese Gesellschaften müssten endlich die Verantwortung für diese fehlgeleiteten Ursache-Wirkung-Entwicklungen übernehmen, um damit schrittweise Stabilität, Wohlstand und Sozialkapital aufzubauen. Denn Sozialkapital gründet auf Vertrauen und Gemeinschaftsgefühl. Letzteres hänge davon ab, wie weit der Mensch die Gesellschaft, in der er lebt, als die „seine“ empfindet. Je fremder sie ihm wird, desto geringer ist sein Gemeinschaftsgefühl. Dies wiederum hat negative Auswirkungen auf das Verantwortungsgefühl für die Mitmenschen und die Solidarität.

Nein zur Praktik, den „Bevölkerungsüberschuss aus geburtenreichen, schlecht regierten Staaten insbesondere in Europa siedeln zu lassen“  Das bedeute aber nicht, dass die reichen Staaten der Welt keine Hilfe leisten sollen. So müsste gelten: Jederzeit bereit zu sein, überall in den krisengeschüttelten Gesellschaften der Welt durch guten Rat und fachliche Expertise zu helfen. Allerdings müsse es grundsätzlich abgelehnt werden, den „Bevölkerungsüberschuss aus geburtenreichen, schlecht regierten Staaten insbesondere in Europa siedeln zu lassen“, so der Autor. Den Auswanderungsländern selbst leiste man damit eine langfristig mehr als fragwürdige Hilfe.

„Gesinnungsethisch mag es moralisch entlastend sein, jeden einzelnen Flüchtling aus Afrika in Europa aufzunehmen, ihm zunächst ein Aufenthaltsrecht und später auch die Staatsbürgerschaft zu gewähren. Aber aus verantwortungsethischer Sicht schaden wir damit der Zukunft des eigenen Landes und lösen kein einziges Problem in Afrika“, führt der Autor nicht ganz zu Unrecht ins Treffen.

Daraus leitet der ehemalige Bundesbanker ab, dass die Europäer „alles moralische Recht besäßen, die Einwanderung aus Afrika nach ihren Wünschen zu steuern. Dazu müssen sie allerdings auch über die nötigen Instrumente verfügen“. (S. 361.)

Reformiertes europäisches Asylrecht und Grenzregime   Mehr als provokativ erscheint sein Beharren darauf, dass die europäischen Staaten ihr Einwanderungs- und Aufenthaltsrecht (einschließlich der Genfer Flüchtlingskonvention und des Asylrechts) den politischen Zielen unterordnen und eben notfalls „ändern“ müssen. (S.363) So habe die Flüchtlingskrise gezeigt, dass Europa weder politisch noch administrativ, noch militärisch für ein wirksames Grenzregime gerüstet sei.

Demgegenüber  brauche es ein europäisches Grenzregime, das elementare Voraussetzungen von „Staatlichkeit“ erfülle und zugleich geeignet ist, dem anhaltenden Einwanderungsdruck standzuhalten, so Sarrazin. Im Zeitalter moderner Ortungstechniken und moderner Satellitenaufklärung sei es heute möglich, im Mittelmeer jedes einzelne Boot mit Flüchtlingen rechtzeitig zu entdecken und abzufangen.

Das reformierte Asylrecht müsse enger gefasst werden: Die schiere Herkunft aus einer Diktatur, einem Unrechtsstaat oder einem armen, schlecht regierten Land gilt nicht als Asylgrund. Menschen, die wegen kriegerischer Auseinandersetzungen fliehen, sollten unmittelbar in ihren Ländern oder in den Nachbarstaaten humanitäre Unterstützung finden. Anerkannte Asylwerber würden nach Sarazzin in den EU-Mitgliedsländern nach dem Bevölkerungsschlüssel verteilt. Der anerkannte Asylwerber habe dann in den ersten fünf Jahren seines Aufenthalts eine Residenzpflicht in dem Mitgliedsland, dem er zugeteilt wurde. Kriminelle Gewalthandlungen (einschließlich sexueller Übergriffe), aber auch wiederholte Eigentumsdelikte führen zum Verlust des Asylrechts und zur Abschiebung in den Herkunftsstaat. Die Gewährung des Asylrechts löst nicht automatisch Nachzugsrechte für Angehörige aus. Illegale Einwanderer müssten auch dann in ihre Herkunftsregion verbracht werden, wenn die Herkunftsstaaten die Kooperation verweigern, meint der Autor. (Falls notwendig, müsse die Rückführung gegen den erklärten Willen der Herkunftsländer unter militärischem Schutz geschehen.)

Wenn es nicht gelingen sollte, die Funktionsfähigkeit des Schengen-Abkommens wieder herzustellen, müssten die einzelnen EU-Staaten im Notfall die Grenzen für Flüchtlinge und illegale Einwanderer schließen und zu einem nationalen Grenzregime zurückzukehren. Der damit verbundene Rückschlag für die europäische Einheit sei zwar bedauerlich, aber gegenüber dem Anhalten des Zustroms von Flüchtlingen und illegalen Einwanderern „das kleinere Übel“, so Sarrazin.

Zukunft des Euro  Auf dem mit dem dritten Griechenlandpaket erneut eingeschlagenen Weg der „Insolvenzverschleppung“ kann die Eurozone nicht zur Stabilität finden. Aus der Sicht des Autors müsse die Insolvenz eines Staates in der Währungsunion grundsätzlich möglich sein, ohne dass damit die Mitgliedschaft des betreffenden Landes in der Währungsunion in Frage gestellt werde. So sei es realistischer, durch neue Anlageregeln den Bankensektor von Staatsinsolvenzen abzuschirmen und dies künftig in der Währungsunion zu ermöglichen. Sarrazin geht auch davon aus, dass die gemeinsame Währung Euro trotz der derzeitigen Turbulenzen bestehen bleiben werde.  (S. 372)

Werte und kulturelles Erbe  Staat und Gesellschaft funktionieren dann umso besser, je mehr die Menschen die gleichen Werte teilen und den staatlichen wie gesellschaftlichen Institutionen vertrauen. So sei die europäisch-abendländische Prägung der Kultur, die Neugier und offene Flexibilität zu fördern, so der Autor. (S. 379) Eine ethnisch-kulturell „fremde“ Einwanderung dürfe deshalb ein gewisses Maß nicht überschreiten, sodass eine Entwicklung mit „entsprechender Anpassung und Absorption“ möglich sei. Nur so sei die europäische kulturelle Identität auf Dauer zu bewahren.

Die Nationalstaaten werden schließlich auf absehbare Zeit die wesentliche Bühne für die Politik bleiben. Trotz zunehmender Globalisierung werde das eigene Land die Bühne bleiben, „wo der Daumen gehoben oder gesenkt“ werde, wenn es um die Wahl oder Abwahl der politischen Volksvertreter geht. Dementsprechend hätte es viele Vorteile, wenn über grundlegende Fragen auf allen staatlichen Ebenen Volksentscheide möglich wären, meint der Autor.

Auch wenn man nicht mit den Thesen und Meinungen des Autors übereinstimmt, ist dieses Buch eine mehr als lesenswerte Lektüre.

 

 

Thilo Sarrazin, Wunschdenken, DVA 2016, 576 Seiten.

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